Dossier
Vertrauen in Gott und den Menschen
Die Mutter-Kind-Beziehung begründet das Grundvertrauen im Leben und legt den Grundstein für die Beziehung zu Gott – das Gottvertrauen.
Vertrauen» ist eine wichtige anthropologische Grundhaltung. Sie beginnt mit dem sehnsüchtigen Blick des Kindes nach einem Menschen, der ihm liebevolle Augen und ein freundliches Lächeln schenkt. Aber die historische Anthropologie zeigt uns auch, dass wir nicht automatisch von der frühen Kindheit konditioniert sind. Es gibt Menschen mit einer unglücklichen, traumatisierten Kindheit, mit Erfahrungen von Enttäuschung, Missbrauch und Vertrauensbruch im engsten Familienkreis, die. aber später dank anderer Erfahrungen im Leben beziehungsfähig werden und sich von der Zärtlichkeit Gottes umfangen wissen.
Der Mensch als Gesprächspartner Gottes
Im Christentum (und im Judentum) ist das kindliche Grundvertrauen eine Metapher für die Beziehung des Menschen zu Gott. Denn wir sind von unserem Ursprung her zur Gemeinschaft und zum Dialog mit Gott berufen. Wir sind seine «Gesprächspartner_innen». Und darin liegt ein besonderer Wesenszug unserer Würde, wie das letzte Konzil in Erinnerung rief.
Das Gebet ist im Judentum und im Christentum nichts anderes als die Pflege des Dialogs mit Gott als Dank, Lob und auch Klage – im Bewusstsein der genannten Berufung, aber auch der Ähnlichkeit und des wesentlichen Unterschieds zwischen uns und ihm. Vor diesem Hintergrund hat uns Jesus von Nazareth eingeladen, in kindlichem Grundvertrauen Gott als «Vater» anzusprechen. Daher auch seine Worte: «Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet…» (Matthäus 18,3).
Dieses Grundvertrauen prägt die Gebetstraditionen der Kinder Israels, die wir in den Psalmen finden. Darin ringt der Beter mit einem Gott, der verlässlich, treu und vertrauenswürdig ist, der einzige Fels und Retter in der Not. Die Dialektik vom Vertrauen auf Gott einerseits und von der Erfahrung der Not und der Finsternis andererseits durchzieht die Psalmen im Besonderen und die Bibel im Allgemeinen. Der Beter findet immer wieder Zuflucht zu Gott, den er ruft in der Not und auf den er in den widrigsten Situationen des Lebens vertraut: «Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, / ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, / dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht» (Psalm 23,4).
Das Vertrauen des Märtyrers Jesus von Nazareth
Auch die Gebetserfahrung Jesu ist bis zum grausamen Tod von diesem Grundvertrauen in den rettenden Gott Israels, seinen «Vater», geprägt, wie aus seinen letzten Worten am Kreuz hervorgeht. Das mag paradox klingen, wenn wir bedenken, dass er nach Markus und Matthäus klagte: «Mein Gott, mein Gott, warum hast zu mich verlassen?» Aber das sind die Anfangsworte von Psalm 22, den Jesus in seiner tiefsten Not zu beten versuchte. Der Psalm entspricht der genannten Logik der Gebetstraditionen Israels: in der Not zu Gott rufen, und auch wenn Gott zu schweigen scheint (Psalm 22,3), ihn als unsere Stärke preisen (22,20) und unser Vertrauen in ihn erneuern. So endet der Psalm mit dem Lobpreis der Heilstaten Gottes, von denen man dem künftigen Geschlecht erzählen wird.
Dazu gehört, dass bei Lukas und Johannes die Verteilung von Jesu Gewand mit einem Verweis auf Psalm 22,19 gedeutet wird: «Sie verteilen unter sich meine Kleider / und werfen das Los um mein Gewand.» Oder dass Jesus nach Lukas mit den Worten aus dem Psalm 31,6 stirbt: «In deine Hände lege ich voll Vertrauen meinen Geist». Für die bibelfesten Adressaten seines Textes war damit die zutiefst «jüdische» Gebetshaltung des «Märtyrers» Jesus bis zum grausamen Tod am Kreuz klar. Lukas brauchte nicht den zweiten Satz dieses Verses zu schreiben: «Du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott.»
Das vertrauensvolle Beten der Teresa von Ávila
Mystiker und Mystikerinnen sind im Christentum ganz normale Menschen, die Mitten im Leben die persönliche Erfahrung machen, dass Gott in Jesus Christus «mir» ganz besonders und nicht einfach «uns» im Allgemeinen seine «Güte und Menschenliebe» gezeigt hat (Titus 3,4), seine Gnade und Gerechtigkeit; daher können wir auf diesen Gott unser ganzes Vertrauen setzen. Ähnlich wie Martin Luther war Teresa von Ávila († 1582) vor dieser Erfahrung des «für mich» der Menschwerdung Gottes von Ängsten geplagt, die man damals mit den Höllenpredigten bei den einfachen Menschen gezielt weckte, um sie moralisch zu disziplinieren. Nach einer Gnadenerfahrung 1554 bei der Betrachtung einer kleinen Figur des gegeisselten Jesus fühlte sich Teresa von diesen Ängsten befreit und zur Gottesfreundschaft berufen. Von nun an konnte sie ihr «ganzes Vertrauen auf Gott» setzen.
Die Heilsangst, mit der sie ins Kloster eintrat, weicht nun der Zuversicht, in ihrer menschlichen «Erbärmlichkeit» bei Gott geborgen zu sein. «Gottesfreundschaft» wird dann zum Schlüsselbegriff ihrer Gebetserfahrung, die sie als einen «freundschaftlichen, vertrauten Umgang» (un trato de amistad) mit Gott definiert: «als Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt.» Beten ist dann ein Beziehungsgeschehen, das sich nicht auf bestimmte Zeiten und Orte beschränken lässt, sondern das ganze Leben durchdringt. Wenn Beten eine Frage des Vertrauens und der Liebe und nicht der Zeit und des Ortes ist, so kann jeder ein Beter sein und die Freundschaft mit Gott pflegen.
Beim Beten geht es für Teresa nicht um viele Gedanken, auch nicht um viele Worte, sondern einfach um ein Dasein vor Gott in Liebe – und in Bewusstsein unserer Ähnlichkeit und Differenz zu ihm. Denn bei aller Vertrautheit mit Gott im inneren Beten als trato de amistad dürfen wir den ihm geschuldeten Respekt nicht vergessen: Er ist Gott und wir sind Menschen, er ist der Retter und Helfer, und wir sind die auf seine Gnade Angewiesenen. Teresa wusste, dass es beim Beten nicht um spirituellen Narzissmus geht, sondern um das Heil «aller»; und sie wusste auch, dass die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe die beste Frucht der Gottesfreundschaft ist.
Das Vertrauen der Kirche in den Menschen
In seiner Ansprache zum Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils am 7.12.1965 hat Papst Paul VI. die Kirche ermahnt, «Vertrauen in den Menschen» zu haben. Das Konzil war sich der Ambivalenz des Menschen in der Geschichte bewusst und hat sein Doppelgesicht eingehend betrachtet, d.h. «Elend und Grösse des Menschen». Aber es hat, so Paul VI. weiter, willentlich eine sehr optimistische Einstellung gewählt und eher die glückliche als die unglückliche Seite des Menschen betont. Dem Konzil war wichtig jene anthropologische Linie hervorzuheben, die den Menschen als soziales und lernfähiges Gemeinschaftswesen versteht. Wir sind primär nicht des Mitmenschen Wolf, sondern «Freund» – sonst hätten wir uns als «Menschheitsfamilie» nicht so weit entwickeln und die Erde bevölkern können.
«Vertrauen in den Menschen» ist wegen der eingangs erwähnten göttlichen Berufung des Menschen wichtig. Das Bewusstsein davon ist aber bei vielen Menschen verschüttet oder verloren gegangen. So ist in der heutigen «Seelsorge» die «Erfahrungs-Anamnese» besonders wichtig, d.h., das Ausgraben der Gotteserfahrung, die in der Biographie eines jeden Menschen, in seiner Hoffnungs- und Leidensgeschichte tief verborgen ist. Dann ist bei den Seelsorgern und Seelsorgerinnen eine mystagogische Dialogkultur nötig, wie sie etwa der agnostische Dichter Antonio Machado († 1939) auf den Punkt gebracht hat: «Um einen Dialog zu führen, fragt zuerst: und dann … hört auch gut zu.» Denn Vertrauen in den Menschen bedeutet auch: auf den Menschen hören, und ihn nicht einfach «belehren».
In Bezug auf den Menschen hat die Kirche heute – so Paul VI. mit dem Konzil – nicht den Weg der dogmatischen Lehren und Verurteilungen gewählt, sondern den des «Dialogs mit ihm», und zwar «mit der sanften und freundlichen Stimme der pastoralen Nächstenliebe», um dabei «alle zu hören und zu verstehen», sowie mit dem Zweck, «dem Menschen zu dienen». Denn die Kirche hat sich mit dem Konzil als «die Dienerin der Menschheit» verstanden – auch und gerade im Hinblick auf «die anthropozentrische Richtung der modernen Kultur».
Paul VI. sagte auch, dass man Gott kennen muss, «um den Menschen, den wahren Menschen, den ganzheitlichen Menschen, zu kennen» und Christi-Antlitz in ihm zu erkennen (Matthäus 25,40). Und er fügte hinzu: «um Gott zu kennen, muss man den Menschen kennen», ja, «um Gott zu lieben, muss man den Menschen lieben».
Gottes Vertrauen und Vertrauen in den Menschen gehören zusammen – trotz der Erfahrung von Gottes Schweigen in der Not und der Ambivalenz menschlicher Natur.
Unser Experte Mariano Delgado ist Professor für Kirchengeschichte und Direktor des Instituts für das Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog an der Theologischen Fakultät.
mariano.delgado@unifr.ch