Dossier
Lernen mit Erin Brockovich
Der Film kann ein Mittel zur juristischen Horizonterweiterung sein; das beweist die Universität Freiburg seit über einem Jahrzehnt mit der Veranstaltungsreihe «Recht im Film». Grosses Kino – und eine anhaltende Erfolgsgeschichte.
Horizonterweiterung. Es ist ein Wort, das sowohl Walter Stoffel als auch Michel Heinzmann verwenden, wenn sie über «Recht im Film» sprechen. Den Filmzyklus, den Stoffel 2013 gemeinsam mit Medienwissenschaftlerin Lucie Bader ins Leben rief. «Interdisziplinarität ist der Juristerei inne. Man kann Recht nicht betreiben, ohne sich für andere Fachgebiete zu interessieren», sagt Heinzmann, der zusammen mit Eva Maria Belser 2020 Stoffels Part übernommen hat.
Jurist_innen auszubilden bedeutet mehr, als ihnen Gesetzbücher und Paragrafen näherzubringen, das wird im Gespräch mit den beiden Rechtsprofessoren schnell klar. «Sich Fragen zu stellen, steht im Zentrum unserer Tätigkeit. Die Antworten sind vielfach umstritten, werden diskutiert», erklärt Heinzmann. Ähnlich läuft es beim Filmzyklus ab. «Auch da sind die Gespräche so angelegt, dass kontradiktorische Positionen eingenommen werden können. Die Besucher_innen gehen nicht mit der Meinung aus der Veranstaltung: ‹So ist es und nicht anders!› Sie sollen inspiriert werden, sich weitere Fragen zu stellen. Das ist der pädagogische Mehrwert.»
Diskussionen gehören dazu
«Recht im Film» läuft in der Regel immer ähnlich ab: Jeweils im Herbstsemester gibt es sechs Filmabende, die alle durch ein Thema miteinander verbunden sind. Wahrheit, Irrtum, Demokratie, Grenzen oder Identität sind einige der Themen, die der Filmreihe in den letzten Jahren den Rahmen gaben. Zu jeder Vorstellung gehören eine filmwissenschaftliche Einführung von Lucie Bader sowie eine anschliessende Diskussion. «Das wird geschätzt. Es diskutieren immer auch eingeladene Gäste mit. Informatiker_innen, Ärzt_innen, Soziolog_innen, Historiker_innen, Filmemacher_innen – wir hatten bereits Personen aus den verschiedensten Bereichen bei uns», sagt Walter Stoffel, der die Diskussionen früher moderierte. Die Liste ist lang und illuster, Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss steht genauso darauf wie der bekannte Filmemacher Samir. Der Runde Tisch sei bereichernd – und keine Einbahnstrasse, sagt Michel Heinzmann, der mittlerweile abwechselnd mit Eva Maria Belser die Gespräche leitet. «Wichtig ist, dass auch das Publikum Fragen stellen darf, darauf legen wir viel Wert.»
Da ist er wieder, der Wunsch nach Austausch und Horizonterweiterung. Walter Stoffel war Präsident des Internationalen Filmfestivals Freiburg (FIFF), als er vor zwölf Jahren zusammen mit Lucie Bader, die ebenfalls im Komitee sass, auf die Idee kam, den Film als Mittel dafür zu benutzen. Es ging ihnen unter anderem darum, die Jus-Studierenden mit der Aussenperspektive auf die Justiz zu konfrontieren. «Wie wird das Recht dargestellt? Wie treten Jurist_innen auf? Welche Rolle spielen sie? Sind es sympathische Leute, oder gerade nicht? Diese Fragen wollten wir aufwerfen.»
Zu den natürlichen Filmkandidaten gehört das klassische Courtroom Drama. Bereits bei der ersten Ausgabe von «Recht im Film» wurde Stanley Kramers Werk «Judgment at Nuremberg» gezeigt, das sich 1961 mit den Nürnberger Prozessen gegen führende Repräsentanten Nazi-Deutschlands befasste. «Dieser Film hat die Wahrnehmung von rechtlichen Verfahren in der Bevölkerung entscheidend mitgeprägt», sagt Stoffel. Später folgten weitere Filme, bei denen der Prozess im Vordergrund steht. Etwa der Blockbuster «Erin Brockovic» von Steven Soderbergh, bei dem eine alleinerziehende Mutter eine Anwaltskanzlei aufmischt und es mit mächtigen Firmen aufnimmt. Oder das Drama «Anatomie d’une chute» von Justine Triet, das 2023 beim Filmfestival in Cannes mit der goldenen Palme ausgezeichnet wurde. «Interessant an diesem Film ist, dass er für einen sehr privaten Kontext, eine Paarbeziehung, das Prozessdrama als Form des Ausdrucks wählt», erklärt Stoffel.
«Grosse Courtroom-Filme sind ein rhetorisches Spektakel. Der Mehrwert, den wir als Jurist_innen bieten können, ist, in der Diskussion das Gezeigte zu relativieren, den Leuten klarzumachen, dass gewisse Dinge aus dramaturgischen Gründen notwendig sind, in der Realität aber nicht so ablaufen würden», sagt Michel Heinzmann. «Es wird in einem wirklichen Prozess nie einen Zeugen geben, der kurz bevor der Entscheid gefällt wird, in den Gerichtssaal platzt, das Wort ergreift und alle umstimmt. Wir können kritisch hinterfragen und einordnen, die wahren Verfahrensabläufe aufzeigen.»
Werke, in denen das Justizverfahren explizit im Vordergrund steht, sind bei «Recht im Film» dennoch die Ausnahme. Eher kristallisieren sich im Verlauf der gezeigten Filme juristische Probleme heraus, werden rechtliche Fragestellungen nebenbei aufgeworfen und dabei ein bestimmtes Bild des Rechts und der Jurist_innen gezeichnet. Ein gutes Beispiel dafür sei «Der Kreis» von Stefan Haupt, sagt Walter Stoffel. Es geht dabei um die gleichnamige Organisation, die sich Mitte des vergangenen Jahrhunderts für die Rechte von Homosexuellen einsetzte. Im Film wird gezeigt, wie die Zürcher Polizei die Organisation administrativ belästigt. Hängengeblieben ist Stoffel insbesondere folgende Szene: «Ein Mann wird in einer Art verhört, die offensichtlich illegal ist. Plötzlich kommt ein anderer Polizist herein und sagt, der Anwalt der Organisation sei da. Sofort wird das Verhör beendet, das Blatt zerrissen und der Befragte nach Hause geschickt.» Das zeige gut das Bild des Filmemachers von dem Anwalt auf. «Dieser konnte der Polizei einen Schrecken einjagen und so für Gerechtigkeit sorgen. In diesem Fall wird also ein positives Bild von ihm gezeichnet – natürlich innerhalb eines problematischen Umfelds, weil das Verhör so gar nicht hätte stattfinden dürfen.»

Nicht nur westliche Filme
Es kommt vor, dass nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, welche rechtlichen Fragen ein Film aufwirft. «Das Recht ist überall», lautet ein Bonmot, das auch für die Handlungen in Filmen gilt. «Manchmal geht es darum, juristische Fragen zunächst herauszuschälen. Das ist eine wichtige Arbeit für Jurist_innen, die wir an der Universität den Studierenden nicht immer genügend beibringen können», sagt Michel Heinzmann. «In der Praxis gilt es immer, Problemfelder zu definieren. Es kann helfen, dies anhand von Filmen schon einmal zu üben.»
Bei der Auswahl der Filme wird auf Diversität geachtet. Gerade auch, wenn der philosophische Ansatz im Vordergrund steht und es darum geht, wie Recht wahrgenommen wird, ist das unerlässlich. «Wir zeigen nicht nur Filme aus Europa und den USA. Zudem wollen wir Filme von Frauen, Filme, aus den verschiedensten Genres, vom Dokumentarfilm bis zum Thriller», sagt Heinzmann. Auch hier geht es wieder um den Perspektivenwechsel, denn die Wahrnehmung des Rechts hängt vom Milieu ab. «Im europäischen und amerikanischen Film wird Recht oft als Mittel dargestellt, das zwar schwer zugänglich ist, aber nützlich, um den Schwachen zum Durchbruch zu verhelfen. In anderen Ländern ist das Recht aber ein gutes Mittel, um Repression zu verstärken», erklärt Walter Stoffel. Das spiegelt sich in den Filmen wider. Michel Heinzmann denkt da an «No Bears» des iranischen Regisseurs Jafar Panahi, der in dem Film geschickt aufzeigt, wie er vom Regime unterdrückt und in seiner Freiheit eingeschränkt wird.
Die Studierenden sollen das Recht durchaus auch inhaltlich zu hinterfragen lernen. «Die Nazis haben innerhalb des Rechts regiert – trotzdem waren sie ein Unrechtsregime», sagt Heinzmann. Genau das thematisiert der Film «Akte Grüninger» von Alain Gsponer. Es ist die Geschichte des St. Galler Polizeihauptmanns Paul Grüninger, der das Gesetz bricht, um jüdischen Geflüchteten zu helfen. «Recht brechen für einen guten Zweck, das führt stets zu schwierigen Diskussionen – die wir aber immer wieder führen sollten.»
Gemeinschaftserlebnis als Trumpf
Mitgeschaut und mitdiskutiert haben bei «Recht im Film» schon mehrere Generationen von Studierenden. 50 bis 80 Personen sind pro Abend in der Regel anwesend, die erste Vorstellung ist oft eine Vorpremiere und wird im Kino gezeigt, die übrigen im Kinosaal der Universität. Die Fachschaft Jus hilft bei der Organisation tatkräftig mit. Studierende aus anderen Bereichen und Gäste ausserhalb der Uni sind bei der Veranstaltung aber genauso willkommen, schliesslich ist sie nicht in das ordentliche Jus-Studium integriert, es werden derzeit keine Credits vergeben.
Die Besucherzahlen sind stabil. Dass Filme durch Streamingdienste mittlerweile allgegenwärtig und überall verfügbar sind, macht sich nicht bemerkbar. «Durch das Gemeinschaftserlebnis und die einordnenden Diskussionen sind die Leute erfüllter, als wenn sie den Film zu Hause im Halbschlaf auf ihrem Handy konsumieren», sagt Heinzmann.
Unser Experte Walter Stoffel ist emeritierter Professor am Departement für internationales Recht und Handelsrecht. Er rief 2013 mit Medienwissenschaftlerin Lucie Bader den Filmzyklus «Recht im Film» ins Leben, der in dieser Form bis heute einzigartig ist.
walter.stoffel@unifr.ch
Unser Experte Michel Heinzmann ist Professor am Departement für internationales Recht und Handelsrecht der Universität Freiburg. Seit 2020 organisiert er gemeinsam mit Rechtsprofessorin Eva Maria Belser «Recht im Film».
michel.heinzmann@unifr.ch