Vor 100 Jahren hat er gelebt, doch auch heute ist sein Werk noch brandaktuell: Max Weber. Prof. Dr. Michael Nollert hat sich intensiv mit seinem 1917 gehaltenen Vortrag «Wissenschaft als Beruf» auseinandergesetzt und erklärt uns im Interview, weshalb Weber auch heute noch eine wichtige Figur für uns ist – nicht nur in den Lehrbüchern.
Herr Nollert, was können wir heute noch von Max Weber lernen?
In der deutschsprachigen Soziologie gehört der Jurist und Nationalökonom Max Weber zu den Klassikern, die in jeder Einführungsveranstaltung thematisiert werden. Von Weber können wir vorab lernen, dass Individuum und Gesellschaft zusammengehören. So wie Individuen stets mit sozialen Wirklichkeiten konfrontiert sind, sind letztlich Individuen und deren Organisationen für die kulturelle, politische und ökonomische Wirklichkeit verantwortlich.
Besonders fruchtbar erscheint mir für die aktuelle soziologische Analyse allen voran sein Konzept «offener» und «geschlossener» Beziehungen (soziale Schliessung), demzufolge Menschen mittels Organisationen die Handlungs- und Erwerbschancen anderen Menschen einschränken und damit ökonomische Ungleichheiten bewirken.
Hat dies auch politische Auswirkungen?
Für die Analyse populistischer Tendenzen in der Politik ist insbesondere Webers «charismatischer Herrschaftstyp» von Interesse. In der Tat neigen auch heute viele «starke Männer» dazu, demokratische Entscheidungsprozesse, wissenschaftliche Fakten und generell den universitären Interpretationswettbewerb zu diskreditieren.
Für die Disziplinen jenseits der Sozialwissenschaften ist folglich vor allem Webers Diagnose aktuell, dass sachliche und kreative Forschung, Lehre und Expertise nur dann möglich ist, wenn sie unabhängig von politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Interessen erfolgt.
So betonte Weber in seinem Vortrag, der in einem politisch-gesellschaftlich extrem aufgeheizten Klima (Erster Weltkrieg, Russische Revolution) stattfand, dass wissenschaftliche Analyse und «politisch-praktische Stellungnahme» zweierlei ist, wobei für ihn klar war: «Politik gehört nicht in den Hörsaal». Dieses Plädoyer für tagespolitische Abstinenz mag erklären, weshalb Karl Marx, auch ein Klassiker der Soziologie, bis heute ungleich mehr Resonanz ausserhalb der Akademia findet.
Worin bestehen heute die Hauptherausforderungen einer akademischen Karriere?
Akademische Karrieren sind nur begrenzt planbar oder in Worten Max Webers auch heute noch ein «Hasard». Inzwischen kennen wir jedoch einige karrierewirksame Faktoren. Selbstverständlich sind ein kulturell inspirierendes Herkunftsmilieu, überdurchschnittliche akademische Abschlüsse, viele und ästimierte Publikationen und Forschungsprojekte noch immer günstige Voraussetzungen.
Hinzu kommen muss ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das scharfe Kritik an der eigenen Arbeit, Intrigen, prekäre Arbeitsverhältnisse und ablehnende Entscheidungen aushalten lässt. Zudem ist soziales Kapital vonnöten, das einem hilft, «wichtige» Figuren in der scientific community kennenzulernen, sich sozial zu profilieren und sog. Zitierkartelle aufzubauen. Auch ökonomisches Kapital ist nützlich, wenn es etwa um den Nachweis von Erfahrungen an US-amerikanischen Elitehochschulen geht.
Da eine akademische Karriere ein Engagement verlangt, das in die Wochenenden und Abende hinein reicht, ist es zudem wichtig, die Ansprüche der Familie und des Wissenschaftsbetriebs zu vereinbaren, was männlichen Nachwuchskräften – aus bekannten Gründen – häufig noch immer besser gelingt als ihren weiblichen Konkurrentinnen.
Was hat Sie dazu motiviert?
Spannende Themen und Begegnungen sowie vieles mehr, was von der Prekarität meiner akademischen Nachwuchsstellen ablenkte.
- Michael Nollerts Webseite
- Mehr Infos zur Tagung «100 Jahre Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Aktuelle Herausforderungen»
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