Romanistikprofessor Walter D. Mignolo hat an seinem Vortrag zum dekolonialen Bewusstsein provokante Fragen gestellt, Forschenden Mut gemacht und sich vor allem dezidiert gegen jegliche Denkschranken ausgesprochen.
Auf Einladung des Studienbereichs Erziehungswissenschaften und des am Studienbereich Zeitgeschichte angegliederten transdisziplinären Doktoratsprogramms „Migration and Postcoloniality Meet Switzerland“ hielt Walter D. Mignolo am 23. Mai 2018
an der Universität Freiburg einen öffentlichen Vortrag zum Thema „La conscience décoloniale. The Call of the Humanities“. Mit dieser Einladung war die Idee verbunden, von einem der renommiertesten Denker im Forschungsfeld der decolonial theory Einblicke in die Möglichkeiten dekolonialer Wissenschaft in den Sozial- und Geisteswissenschaften zu erhalten.
Ein Leben für Kritik an westlicher Geschichtsschreibung
Walter D. Mignolo ist Professor für Romanistik und Direktor des Center for Global Studies and the Humanities an der Duke University in den USA. Der gebürtige Argentinier hat unter anderem in Paris studiert und einige autobiografische Erfahrungen aus dieser Zeit zum Ausgangspunkt seines Vortrags genommen. Er fühlte sich stets als immigrant und dies hat dazu geführt, dass sich bei ihm ein ‚migrantisches Bewusstsein‘ ausbildete. Nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrungen des Nie-ganz-Dazugehörens, des Anders-Seins, hat Mignolo fast sein ganzes Leben als Forscher der Kritik an der westlichen und eurozentristischen Geschichtsschreibung sowie am Kolonialismus als ,The Darker Side of Western Modernity‘ gewidmet. Mit diesen Themen gehen bedeutsame Fragen einher: Wie kann am hegemonialen Wissensfundament der westlichen Moderne gerüttelt werden und wie kommt Dekolonialisierung zum Beispiel in der Wissensproduktion an Universitäten oder anderen Bildungsinstitutionen zum Tragen?
Keine universellle Wahrheit, sondern immer Optionen
Diesen und anderen Fragen ging Mignolo in seinen äusserst interessanten und mit viel Leidenschaft vorgetragenen Ausführungen nach. So wies er beispielsweise darauf hin, dass die ‚dekoloniale Option‘ in einem universitären Kontext eine Möglichkeit unter vielen darstellt und dass es eine universelle Wahrheit, die für alle gilt, nicht gibt. „Whatever you do is an option“ und weiter: „Don’t pretend that your option is universal and valid for everybody“.
Mit Aussagen wie diesen regte uns Mignolo zum Denken an und brachte uns dazu, unsere eigene Positionierung als Studierende und Dozierende an einer westlichen Universität kritisch zu reflektieren. Was tun wir eigentlich, wenn wir Wissenschaft betreiben? Welchem Wissen verleihen wir den Status von gültigem, anerkanntem Wissen? Und welches Wissen wird marginalisiert? Oder mit Mignolos Worten: „Who is saying what, when, how and what for?“ Damit machte uns der Vortragende darauf aufmerksam, dass es nicht nur wichtig ist, die Inhalte von (wissenschaftlichen) Aussagen kritisch infrage zu stellen, sondern dass es auch darum geht, über die Art und Weise nachzudenken, wie die Aussagen zum Ausdruck kommen (the enunciation) und welche machtvollen Effekte sie zeitigen können.
Ungehorsam gegenüber Zwängen – auch und gerade im akademischen Umfeld
Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten, wie diesen Aspekten aus einer dekolonialen Perspektive begegnet werden kann. Mignolo kam in diesem Zusammenhang unter anderem auf das delinking im Sinne eines epistemischen Ungehorsams etwa gegenüber bestimmten disziplinären Zwängen zu sprechen. Kurz gesagt ist damit gemeint, dass uns auch innerhalb eines universitären Kontextes immer mehrere Handlungs- und Denkwege offenstehen und dass wir stets mehr Möglichkeiten haben, als wir manchmal meinen. Es kommt dann darauf an, unsere Möglichkeiten unter ethischen Gesichtspunkten abzuwägen und uns in verantwortungsvoller Weise zu entscheiden.
Inwieweit die von Walter D. Mignolo in seinem Vortrag diskutierten dekolonialen Denkansätze gegenwärtige sozial- und geisteswissenschaftliche Diskurse irritieren und weiterbringen, bildet lediglich eine der aufgeworfenen Problematisierungsrichtungen, die es aus unserer Sicht auf jeden Fall auch an der Universität Freiburg weiterzudenken lohnt.
Lektüretipps:
Mignolo, W. D. (2011). The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options. Durham: Duke University Press.
Mignolo, W. D. (2012). Epistemischer Ungehorsam: Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Wien: Turia + Kant.
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