Wenige Leute werden so oft zitiert wie der Invasionsbiologe Sven Bacher. Das bestätigt das «Citation-Ranking» von clarivate.com, gemäss welchem Bacher zum Top-1-Prozent der meistzitierten Biologen weltweit gehört. Ein Gespräch mit einem, der es sich zum Beruf gemacht hat, Äpfel mit Birnen und Tigermücken mit Riesenbärenklau zu vergleichen.
Sven Bacher, zunächst einmal herzliche Gratulation. Wie wird man zu einem der meistzitierten Biologen weltweit?
Nun, mein erfolgreichster Artikel ist ein reiner Statistik-Artikel. Der wird auch in der Medizin, den Sozialwissenschaften, der Wirtschaft und vielen weiteren Fächern zitiert. Der überwiegende Rest meiner Arbeiten stammt allerdings aus meinem eigentlichen Fachgebiet: der Invasionsbiologie. Und es sind eigentlich ausnahmslos Kollaborationen.
Wie muss man sich die Arbeit eines Invasionsbiologen überhaupt vorstellen? Gehen Sie auf eine Wiese, stecken sich einen Quadratmeter ab, schauen, was es an Tieren und Pflanzen hat, und überlegen sich dann, was da hingehört und was nicht?
Das wäre eine Möglichkeit. Meine Stärken liegen allerdings mehr im konzeptionellen Bereich. Ich arbeite mehr am Computer und überlege mir, wie alles zusammenpasst. Wie fügen wir die vielen Mosaiksteinchen zu einem grossen Bild? Und welche Mosaiksteinchen brauchen wir überhaupt noch, um einen Überblick zu erhalten?
Am meisten Spass macht mir die Arbeit an Modellen, die beschreiben, was passiert, wenn Arten verschleppt werden.
Sie beschreiben also, was geschieht, wenn jemand Hirsche nach Neuseeland bringt?
Auch. Aber die Modelle müssen auch für Vögel funktionieren, für Fische, Milben, Bakterien, Amphibien, Pflanzen oder Pilze. Und das nicht nur in Neuseeland, sondern in Ökosystemen auf der ganzen Welt. Um solche Modelle zu entwickeln und zu testen, braucht es riesige Datenmengen. Darum auch die Kollaborationen: Da kommen verschiedenste Forscher zusammen, jeder bringt seine Datenbank und dann schauen wir, wie alles zusammenpasst.
Und was passiert nun konkret, wenn Arten verschleppt werden?
Das erste was wir sehen ist, dass es eine Sequenz von Ereignissen gibt. Es ist nicht so, dass eine Art – plopp – auf einmal alles kahl frisst. Die Art wird in einem ersten Schritt ausgewählt und verschleppt durch den Menschen. Am neuen Ort muss sie dann auch wirklich freigelassen werden. Eine Mücke in einem Flugzeug ist noch keine invasive Art. Wenn die verschleppte Art freigesetzt wird, muss sie erst mal überleben. Dann muss sie sich erfolgreich reproduzieren; und das nicht nur einmal, sondern mehrfach. Wenn das gelingt, beginnt sich die Art auszubreiten und dann irgendwann merkt man, dass die Art einen Schaden verursacht. Wir haben also eine Sequenz von Ereignissen. Die unterteilen wir und schauen bei jedem Schritt genau hin: welche Arten die nächste Hürde schaffen und welche nicht.
Sie sagten eine Art wird «ausgewählt». Werden Arten denn bewusst verschleppt?
Einige schon. Nehmen wir beispielsweise Vögel: Sie wurden oft wissentlich umgesiedelt. Vor 150 Jahren galt das als sehr modern, da gab es sogar Vereine, sogenannte «acclimatisation societies», die das gezielt gefördert haben. Man hat aus Europa Tiere in die Kolonien mitgebracht, um sie dort auszusetzen. Damit man sich in der Fremde ein bisschen heimisch fühlen konnte. Umgekehrt hat man auch exotische Tiere aus den Kolonien hierher gebracht, damit’s hier ein bisschen bunter wird.
Wirklich? Nicht als Attraktion, sondern um die Wälder farbiger zu machen?
Ja, man wollte die Natur schöner machen. Denken Sie an den Fasan: unsere Vögel sind ja alle eher grau, der Fasan ist schön bunt. Ausserdem kann man ihn jagen.
Sein Aussehen hat den Fasan hierher gebracht, aber das allein half ihm nicht, hier zu überleben. Erst wenn eine Art erfolgreich überlebt, kommt sie irgendwann an den Punkt, wo sie sich überlegen kann, ob sie mal ein Problem machen will. Und um das alles zu beschreiben, haben wir eine Sequenz von Phasen entwickelt, die sich nicht nur für Vögel eignet, sondern auch für Bakterien, Pflanzen, Fische. Der Artikel wird sehr oft zitiert.
Und was bringt uns dieses Modell?
Der nächste Schritt wird sein, dass wir Prognosen machen können, welche Typen von Arten es schaffen, die Sequenz zu durchlaufen. Dass wir herausfinden, worauf wir achten müssen, wenn wir das verhindern wollen. Denn es ist eine Frage der Dimension: es werden so viele Arten verschleppt, dass wir uns unmöglich um alle kümmern können.
Seit etwa 1500, also seit der Entdeckung anderer Kontinente, steigt die Zahl der verschleppten Arten rasant an. Pflanzen, Tiere, Bakterien. Und wir sehen, dass sämtliche Massnahmen, die wir heute zur Kontrolle ergreifen – Handelsbeschränkungen, Einfuhrkontrollen – dass die, nun, sagen wir, dass sie nicht das bringen, was wir gerne hätten.
Was kann man denn gegen Verschleppungen überhaupt tun?
Das hängt stark davon ab, wie die Arten verschleppt wurden. Denken Sie zum Beispiel mal an ihren Garten: All die schönen Blumen, nichts davon ist einheimisch. Das sind alles exotische Arten, die hierher gebracht wurden, damit’s hier etwas farbenfroher aussieht. Sehr viele Pflanzenarten, die uns Probleme bereiten, kommen aus Gärten. Oder aus botanischen Gärten. Ein schönes Beispiel ist der Riesenbärenklau, eine krautige Pflanze mit grossen Blättern, an denen man sich verbrennen kann, wenn man sie berührt.
Der Riesenbärenklau wurde zuerst im Royal Botanical Garden in Kew angebaut, von da büxte er im 19. Jahrhundert aus. Es gibt ein Lied der Gruppe «Genesis» namens «The Return of the Giant Hogweed», wo beschrieben wird, wie die Pflanze aus dem botanischen Garten entwischt und sich dann überall ausbreitet.
Wenn wir etwas gegen die Verschleppung von Pflanzen unternehmen wollen, wäre es gut, wenn wir unsere Vorstellungen von Gartenbau überdenken würden.
Was passiert denn, wenn so eine Gartenpflanze in die Umwelt entwischt?
Nehmen Sie die Wälder im Tessin. Eigentlich sind die im Winter grau; die Bäume werfen das Laub ab. Das Buschwindröschen und andere Pflanzen überwintern als Knolle im Boden und treiben im Frühling wieder aus, wenn das Licht den Waldboden erwärmt.
Inzwischen ist das aber anders. Heute finden Sie dort im Unterwuchs Lorbeerpflanzen und Palmen. Die sind aus Gärten entkommen und führen dazu, dass die Tessiner Wälder einen immergrünen Unterwuchs haben. Das Buschwindröschen und die anderen Pflanzen verschwinden, weil sie den Lichtimpuls nicht mehr erhalten.
Das heisst, man geht jetzt in den Wald und reisst die Palmen aus?
Damit würde man am hinteren Ende der Kette ansetzen. Man kann aber auch in die Gärten gehen und den Leuten sagen, schaut doch bitte, dass Eure Palmen nicht blühen. Oder man geht zum Grosshändler und sagt, nimm doch bitte die Palmen aus dem Sortiment. Und da kommen wir Biologen wieder ins Spiel: Wir müssen herausfinden, welcher Zugang am effizientesten ist.
Und die Palmen sind ja nicht das einzige Problem, gegen das man etwas tun könnte.
Richtig, die einen sagen «da sind diese Palmen in unseren Wäldern», die andern sagen «da ist dieser chinesische Marienkäfer» und die dritten sagen «da ist ein Fisch, der uns Ärger macht». In der Schweiz gibt es etwa eintausend Arten, die nicht hierher gehören. Wir können nicht gegen alle etwas tun, sondern sollten uns auf die schlimmsten konzentrieren. Also müssen wir das, was der Marienkäfer anstellt mit dem vergleichen können, was die Palme macht. Damit wir wissen, wo wir zuerst ansetzen sollten – und wo es nicht so dringend ist.
Mit solchen Fragen beschäftige ich mich sehr gerne: wie entscheiden wir, ob wir besser beim Fisch aktiv werden oder bei der Palme oder beim Käfer?
Und? Wie entscheiden wir das?
Wir haben ein fünfstufiges System entwickelt, das anzeigt, wie stark eine einheimische Art unter der fremden Art leidet. So können wir vergleichen, welche Art wie schädlich ist. Unser System wurde jetzt auch von jener UNO-Behörde aufgegriffen, die auch die roten Listen der bedrohten Arten definiert.
Und wie sieht es mit den Schäden aus, die für den Menschen entstehen?
Das war unser letztes Projekt – und nicht ganz einfach. Denn wir hier in Europa haben natürlich ganz andere Möglichkeiten, mit Schäden umzugehen, als etwa ein Fischer in Uganda. Wenn sein See wegen einer eingeschleppten Wasserpflanze zuwächst, muss er schlicht aufgeben. Trotz potentiell schlimmer Folgen ist das Problembewusstsein hier recht gering.
Ich habe kürzlich ein Interview mit Ihnen bei universitas gelesen. Von den ganzen aufgezählten Arten kannte ich gerade mal die Varroa-Milbe – und ich habe vergessen, warum die mal ein Thema war.
Wegen dem Bienensterben. Sehen Sie: ob Sie das wissen oder nicht, es passiert trotzdem. Und wenn die Honigproduktion oder die Bestäubung von Kulturpflanzen betroffen ist, wird es sehr schnell sehr relevant. Aber Sie haben richtig beobachtet: das Wissen über eingeschleppte Arten ist hierzulande wenig ausgeprägt. Das sieht beispielsweise in Südafrika ganz anders aus. Dort kennt jeder Gärtner das Problem und die Bevölkerung empfindet die gebietsfremden Arten als negativ. Denn einige dieser Arten senken zum Beispiel den Grundwasserspiegel. Und Sie wissen ja, welche Wasserknappheit gerade in Kapstadt herrscht.
Aber in Europa hat die Problematik der eingeschleppten Arten keine Priorität?
Was Priorität hat, ist eine gesellschaftliche Entscheidung. Wollen wir uns um invasive Arten kümmern oder ist es dringender, die SRG zu bodigen? Als Wissenschaftler können wir da in erster Linie beratend zur Seite stehen und aufzeigen, was passiert, wenn man etwas gegen die Folgen der Artenverschleppung tut, was passiert, wenn man nichts tut und wie man vorgehen sollte, wenn man etwas tun möchte.
Aktuell unterstützen wir hier in Freiburg gerade das naturhistorische Museum bei einer Ausstellung. Zurzeit lancieren wir eine Art «Pokemon Go», bei dem die Leute in der Umgebung des Museums invasive Arten aufspüren können. Das wäre ein kleiner Beitrag zur Sensibilisierung. Denn dass eingeschleppte Arten bei uns relativ wenig Probleme machen, muss nicht so bleiben. Es kann sein, dass wir auf einer Zeitbombe sitzen.
Was könnte denn in den nächsten zehn Jahren Probleme bereiten?
Einerseits gibt es zunehmend mehr neu eingeschleppte Arten, andererseits kommt es aber auch vor, dass eine Art erst nach Jahrzehnten oder nach Jahrhunderten anfängt, Probleme zu bereiten. Nehmen wir wieder den Riesenbärenklau: Der ist schon seit 150 Jahren in Europa, hat sich aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg schlagartig verbreitet. Damals hat man nicht verstanden, warum. Inzwischen scheint die Ausbreitung auch ohne unser Zutun wieder zurückzugehen.
Wenn der Riesenbärenklau jetzt keine Probleme mehr macht, wird er dann irgendwann heimisch?
«Heimisch» ist eine Definitionssache. Und für mich ist es relativ unwichtig. Viel wichtiger ist, dass wir keine instabilen oder zerstörten Ökosysteme haben. Schliesslich wollen wir nicht, dass die Landwirtschaft plötzlich stark schwankende Erträge einfährt. Oder dass in den alpinen Erosionsgebieten plötzlich Bewegung reinkommt. Oder dass die Flussufer mal halten und mal nicht. Wir wollen Ökosysteme, die wir verstehen und mit denen wir arbeiten können. Bei den Debatten um «Einheimisches» und «Fremdes» schwingen immer auch weltanschauliche Positionen mit.
Was gehört hierher, was gehört nicht hierher?
Solche Debatten sind schwierig. Nur schon weil es unmöglich ist, einen status quo zu definieren, seit wann eine Spezies an einem Ort sein müsste, damit sie «dort hingehört». Ohnehin ist die Natur, die den Menschen vorschwebt, wenn sie sagen, «wir wollen die Natur erhalten», eine Natur, die hochgradig menschgemacht ist. Die schönen, artenreichen Bergwiesen beispielsweise würden ohne Landwirtschaft komplett verbuschen. Eine andere Frage ist, welche Natur wir uns leisten wollen. Wir können in der Schweiz gerade mal 50% der Menschen ernähren. Ist das die Nachhaltigkeit, die in der Verfassung steht? Privat habe ich da durchaus eine Meinung, als Wissenschaftler kann ich aber bloss beratend zur Seite stehen. Solche Fragen muss die Gesellschaft entscheiden.
Welche Möglichkeiten gibt es denn heute zur Bekämpfung der Artenverschleppung?
Die Möglichkeiten haben abgenommen: Alle Güter, die innerhalb Europas unterwegs sind, unterliegen dem Freihandel und werden nicht mehr kontrolliert. Güter, die von ausserhalb Europas kommen, erreichen uns hauptsächlich per Schiff oder über die Flughäfen. Dort gibt es phytosanitäre Dienste. Die haben eine Liste von etwa 200 unerwünschten Arten. Wird eine dieser Arten gefunden, wird die Ladung normalerweise verbrannt. Das Problem sind die Mengen. Kontrolliert werden gerade mal etwa 2 Prozent der Waren. Und bei denen muss man auch noch schauen, wie gründlich die kontrolliert werden – immerhin sucht man keine Elefanten. Die Frage ist, was alles auf diese Liste drauf soll. Das ist auch nochmal eine Wissenschaft für sich: zu antizipieren, was in Zukunft problematisch sein könnte.
Und was mal im Land ist, ist kaum mehr wegzukriegen.
Es ist auf jeden Fall sehr kostspielig. Vor ein paar Jahren gab es hier in Freiburg einen Ausbruch des Asiatischen Laubbockkäfers, der Bäume in der Nähe von Marly befallen hat. Es mussten 700 Bäume gefällt und eine Schutzzone eingerichtet werden. Inzwischen ist das etwa vier Jahre her und hat mehrere Millionen gekostet, aber der Käfer ist seit dem nicht wieder aufgetaucht. Die Massnahme gilt deshalb als Erfolg, aber Sie sehen, wie aufwändig und teuer das war.
Und alles kann man so auch nicht verhindern.
Mit vielen Arten werden wir uns anfreunden müssen. Mit dem globalen Handel und dem Tourismus werden einfach extrem viele Arten verschleppt werden. Wir schätzen, dass zwischen zwei und 15 Prozent aller Arten weltweit verschleppt werden können.
Mit welchen Folgen?
Wir homogenisieren die Ökosysteme. Am Anfang klingt das vielleicht noch nett, es gibt immer wieder Leute die sagen: fremde Arten steigern die Biodiversität. Das mag lokal sogar stimmen, aber global schadet die Verschleppung der Diversität. Es sind ja immer die gleichen Arten: Die Amseln, die man hier sieht, findet man auch in Sidney oder New York.
Oder Tigermücken: Weltweit werden Autoreifen verschifft, in denen sammelt sich Regenwasser und darin brüten die. Oder Ratten, ein grosses Problem auf vielen Inseln. Die leben auf praktisch allen Schiffen und früher oder später schaffen sie es irgendwo an Land. Mit teilweise grossen Folgen für die lokale Umwelt.
Die Globalisierung der Arten folgt der Globalisierung des Welthandels.
Absolut. Man sieht, wer mit wem Handel betreibt, wer stärker oder weniger stark ins globale Netz eingebunden ist. Chinesische Buchsbaumzünsler, Tigermücken und Co. gibt es hier erst seit dem chinesischen Exportwunder.
- Webseite von Sven Bacher
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