Fritz Graf gilt heute als einer der wichtigsten und anerkanntesten Philologen. Der gebürtige Ostschweizer lehrte einst an der Universität Basel und ist mittlerweile in den USA tätig. Im Interview gibt der Professor einen Einblick in den Tanz der antiken Römer, zieht Vergleiche zu heutigen Tanzformen und sagt, was er im Mittleren Westen vermisst.
Herr Graf, Sie werden am 18. Juni einen Vortrag halten mit dem etwas mysteriösen Titel «Tanzen unter den Kaisern: eine (nicht nur) epigraphische Untersuchung». Auf welche Inhalte dürfen wir uns freuen?
Der Vortrag wird zuerst kurz davon sprechen, dass ‘Tanz’ in den inschriftlichen Texten der Kaiserzeit sehr oft Pantomime meint: das ist nicht neu, hat aber interessante Konsequenzen für die Stellung und das Selbstverständnis der Pantomimen. Der Hauptteil des Vortrags gilt dann anderen, nicht-pantomimischen Formen des Tanzes in der kaiserzeitlichen Religion in der Spannnung zwischen Tradition und Neuerung. Ich werde insbesondere zwei Tänzergruppen ansprechen, die eine im religiösen Leben von Olympia, die andere in der Stadt Ephesos. Wir werden dabei unter anderem reife Herren der Oberschicht antreffen, zu deren amtlichen Verpflichtungen ein Gruppentanz gehörte.
Hatte das Tanzen in der Antike eine besondere Bedeutung? Vielleicht eine andere als heute?
Ja doch. Die dominanten Formen des modernen Tanzens, der Paartanz oder die gemischt-geschlechtliche Disco-Gruppe, existiert nicht wirklich, und Tanz ist (wo es nicht Pantomime ist) ein zumeist geschlechtsgetrenntes kollektives Unternehmen, das besonders mit der Religion verbunden ist, mit Apollon und Dionysos als den zentralen Gottheiten. Man verliert sich in der tänzerischen Hingabe an den Gott Dionysos, wie dies die Mänaden tun, oder man verehrt eine Gottheit wie Apollon mit der Gabe eines performativen Kunstwerks, das aus Instrumentalmusik, Gesang und Tanz besteht.
War Tanzen ein kodifiziertes Ritual oder konnte es auch als einfaches «Toben» und «Spass haben» gelesen werden?
Der kultische Gruppentanz war selbstverständlich kodifiziert, auch wenn wir die Regeln und Formen nicht mehr kennen; Vasenbilder der archaischen Zeit legen nahe, dass solche Tänze auch ausgelassen und komisch sein konnten. Der ekstatische Tanz im Kult des Dionysos und anderer Kultgruppen ist komplexer. ‘Austoben’ ist sicher eine Komponente – dionysische Vereine der Kaiserzeit hatten Aufseher, die dafür sorgten, dass die Ordnung nicht völlig aus den Fugen ging, und Tanz konnte als Heilung von Wahnsinn verstanden werden, als ein Austoben im eigentlichen Sinne; freilich insistieren Bilder mehr auf der selbstvergessenen Entspanntheit als auf ausgelassenem Toben. Gruppen von Satyrn – die männlichen Verehrer von Dionysos – setzen im ausgelassenen Tanz im Ende von Tragödiendarbietungen einen Kontrapunkt zum Ernst der Tragödie, und solche Satyrtänze existierten auch in der Kaiserzeit. Hingegen fehlen uns private Zeugnisse dafür, wie ein einzelner Mensch Tanz erleben konnte; immerhin stellte man sich in einigen Kulten vor, dass man nach dem Tod auch im Paradies tanzen konnte.
Welche Codes sind heute noch aktuell?
Ich denke, dass beide grundlegenden Formen des antike Tanzes – die Gruppe, in der der Einzelne in einer übergeordenten Ordnung aufging, und der Tanz als Türe zu einer anderen, regellosen Welt – noch immer wichtig sind, je nach der sozialen Gruppe, der man angehört. Tanzen scheint ein urtümliches menschliches Anliegen zu sein; wenn das so ist, so sind zwar die spezifischen Formen zeitgebunden, die Grundlage aber ist es anthropologisch gegeben.
Was ist die Epigraphik genau und wie begeistern Sie junge Menschen dafür?
Epigraphik ist die Wissenschaft von Inschriften, in meinem Fall von Inschriften der griechischen und römischen Welt. Inschriften sind die unmittelbarsten Dokumente der Vergangenheit, und sie führen uns direkt in die Welt der antiken Schreiber; oft kann man sogar noch sehen, wie sich ein Schreiber verschrieb und sich dann korrigierte, und gelegentlich ist noch die rote Farbe vorhanden, mit der man die Texte viel besser lesbar machte, als wir meinen; Inschriften der griechischen Bronzezeit, eingeschrieben um 1200 v. Chr. auf Tontäfelchen, bewahren sogar die Fingerabdrücke der Schreiber auf oder der Helfer, welche den Ton glätteten. Inschriften geben also ein unvermitteltes Bild von antiken Menschen, bis hin zu privaten Dingen wie der Inschrift, die der Bildhauer Phidias auf den Boden seines Trinkbechers einrizte (‘Ich gehöre Phidias’ – Archäologen fanden den Becher in seinem Atelier), oder zu den Zaubersprüchen auf einem Stück Bleiblech, mit denen ein antiker Arzt seinen Konkurrenten lahmlegen wollte. Inschriften führen aber auch antike Politik ganz direkt vor und ergänzen oder korrigieren das, was die antiken Historiker uns mitteilen; gerade aus der römischen Welt besitzen wir inschriftliche Dokumente, welche Livius oder Tacitus nicht bloss ergänzen, sondern auch widerlegen.
Schwingen Sie auch manchmal das Tanzbein?
Aber ja. Die Uni Basel hatte einen Professoren-Ball, das Professorium, und Princeton hatte sogar Tanzkurse für Faculty; an der Ohio State, im nüchternen Mittleren Westen, vermisse ich dies etwas.
- Abendvortrag «Tanzen unter den Kaisern: eine (nicht nur) epigraphische Untersuchung» Der 2018 zum Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät ernannte Professor Fritz Graf hält am Dienstag, 18. Juni 2019 um 18.00 Uhr einen öffentlichen Vortrag zu den Aspekten der Römischen Tanzkultur.Mehr Informationen im Veranstaltungskalender.
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