«Kann der Staat Religionsgemeinschaften zu Gleichberechtigung verpflichten?»

«Kann der Staat Religionsgemeinschaften zu Gleichberechtigung verpflichten?»

40 Jahre Institut für Religionsrecht: Das ist der Anlass für eine Tagung am 6. September in Bern – und für eine Vor- und Rückschau mit Institutsleiter René Pahud de Mortanges.

Herr Pahud de Mortanges, wenn Sie auf die 40 Jahre Ihres Instituts zurückblicken, welche Höhepunkte fallen ihnen auf?
Unter meinem Vorgänger Louis Carlen wurden in den ersten 20 Jahren vor allem Rechtsfragen behandelt, die die christlichen Kirchen, namentlich die katholische betrafen. In meiner Zeit haben Fragen zu religiösen Minderheiten stark an Gewicht gewonnen. Sie ergeben sich aus der verstärkten Präsenz beispielsweise von Muslimen oder Hindus in der Schweiz. Die Adaptation des Schweizer Rechtssystems an die neue religiöse Vielfalt war ein zentrales Thema der letzten 10, 20 Jahre.

Worum ging es da konkret?
Beispielsweise um die Öffnung der öffentlich-rechtlichen Anerkennung für neue Religionsgemeinschaften. Oder um die Seelsorge in Spitälern und Gefängnissen. Es ging aber auch um finanzielle Fragen. Der Staat entschädigt mancherorts die Kirchen für Leistungen, die der Gesamtgesellschaft zu Gute kommen. Da stellt sich die Frage ob er das z.B. auch für Leistungen jüdischer oder muslimischer Gemeinschaften machen könnte, die der Allgemeinheit dienen.

Und was hat Sie persönlich besonders begeistert?
Oh, vieles! Wir konnten rechtspolitische Diskussionen begleiten, hatten einen interessanten Austausch mit Vertretern staatlicher Institutionen und Politikern, aber auch mit den Leitungspersonen von Kirchen und Religionsgemeinschaften. Es war aber auch spannend zu sehen, wie die Wissenschaft auf den religiösen Wandel reagiert hat. Religionswissenschaftler, Religionssoziologinnen oder Anthropologen: Deren Perspektiven waren für mich oft äusserst lehrreich. Zudem haben sich die wissenschaftlichen Diskussionen stark internationalisiert. Früher verliefen die Debatten in nationalen Räumen, heute finden sie oft auch in internationalen Netzwerken statt. Gerade hier kann das Institut Türöffner sein und Vermittler in Diskussionen, die auf die Schweiz zukommen werden.

Internationale Diskussionen sind auch ein Thema an der Tagung vom 6. September.
Genau, da wird beispielsweise darüber diskutiert, ob und wie die Rechtsprechung der europäischen Gerichte Einfluss auf das Verhältnis von Staat und Religion in der Schweiz ausübt. Die europäischen Gerichte agieren in Fragen zum Thema Staat und Religion meist zurückhaltend, aber in der Schweiz ist der Einfluss europäischer Gerichte ja ein brisantes Thema. Da bin ich gespannt auf das Referat von Astrid Epiney!

Übergeordnetes Thema der Tagung sind die offenen Fragen im Verhältnis von Staat und Religion. Was ist denn da noch nicht geklärt?
Es geht beispielsweise um die Frage, ob der Bund mehr Kompetenzen erhalten soll. Heute ist das rechtliche Verhältnis von Staat und Religion grösstenteils Angelegenheit der Kantone. Das ist eine bewusst föderalistische Lösung, die auf die Reformation und den Sonderbundskrieg zurückzuführen ist. So können katholische Kantone beispielsweise andere Bestimmungen erlassen als reformierte. Das Verhältnis von Staat und Religion wird heute aber zunehmend auch auf nationaler Ebene thematisiert. Demnächst werden wir beispielsweise über ein nationales Verhüllungsverbot abstimmen. Und im eidgenössischen Parlament gab es eine Motion, religiöse Stiftungen besser zu überwachen. Die spielen traditionell vor allem in der katholischen Kirche eine Rolle, dem Motionär ging es aber primär um islamische Stiftungen. Hier muss der Bund nun Stellung nehmen. Angesichts dieser und verschiedener anderer Motionen stellt sich die Frage, welche Aufgaben und Verantwortung der Bund in diesem Bereich hat.

Ein anderes Thema ist die Spannung zwischen Religionsfreiheit und Nichtdiskriminierung. Einige Religionsgemeinschaften haben vergleichsweise paternalistische Strukturen. Staat und Gesellschaft fordern immer entschiedener, dass niemand aufgrund seines Geschlechts diskriminiert werden soll. Hat der Staat für Nichtdiskriminierung innerhalb der Religionsgemeinschaften zu sorgen und kann er das überhaupt?

Spannend, da kollidieren zwei Rechtsgrundsätze!
Und genau deshalb bin ich sehr gespannt, was Eva Maria Belser an der Tagung dazu sagen wird.

Geht es nur um Wissenschaft an dieser Tagung?
Für uns ist sie auch eine Gelegenheit, allen zu danken, die in den letzten Jahren mit uns unterwegs waren. Es werden Leute da sein, mit denen wir zusammengearbeitet haben und auch heute noch kooperieren – sozusagen ein Treffen der religionsrechtlichen Szene. Zunächst in einem wissenschaftlichen Rahmen und später dann auch in einem entspannten, informellen Teil.

Blicken wir zum Schluss noch in die Zukunft: Was wird uns als Gesellschaft allgemein und Ihr Institut ganz besonders in den nächsten Jahren beschäftigen?
Wir haben gerade eine Studie gemacht, die zeigt, dass sich grosse Mehrheit der religionsrechtlichen Motionen auf kantonaler Ebene heute um den Islam dreht. Fragen zum Islam in der Schweiz werden wohl ein Thema bleiben.

Andererseits sehen wir, dass der privilegierte Status der öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen zusehends unter Druck gerät. Da sieht man die Säkularisierung: Politiker fragen kritisch, warum die Kirchen staatliche Finanzhilfen erhalten oder warum man an religiösen Feiertagen keine Geschäfte aufmachen oder keine Discos veranstalten kann. Der Status der Landeskirchen wird verstärkt unter Druck kommen. Wie werden die Kirchen damit umgehen?

Auch die Frage von Religionsfreiheit versus Nichtdiskriminierung wird vermutlich an Brisanz gewinnen. Genauso die Frage nach der Religion in der Öffentlichkeit. Wieviel sichtbare religiöse Diversität erträgt die Schweiz? Werden hier zukünftig verstärkt Regeln erlassen? Dem Institut für Religionsrecht wird die Arbeit auch in Zukunft nicht ausgehen.

 

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  • Webseite des Instituts für Religionsrecht

 

Author

War schon Wünscheerfüller, Weinbauhelfer, Unidozent, Redaktionsleiter, Veloweltreisender und kleinkünstlerischer Dada-Experte. Ist dank dem Science Slam an der Universität Freiburg gelandet.

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