Dieses Buch erzählt auf etwas andere Weise das Verhältnis von Föderalismus und Demokratie, für uns selbstverständliche Merkmale der deutschen Gegenwartspolitik.
Auszug
Der Weg der Westdeutschen in eine demokratische Gesellschaft nach 1949 ist häufig als eine Annäherung an den politischen Westen, genauer an die alten westlichen Demokratien Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten beschrieben worden. Die Tiefendemokratisierung Westdeutschlands sei demnach in den 1960ern geschehen und in den 1970ern wurde man sich dieses Gewinns bewusst. So lautet zumindest das vorherrschende Narrativ. Dieses Buch erzählt eine andere Geschichte, ohne dass es eine neue Erzählung an die Stelle der alten setzen will. Die Annäherung an den Westen kann nicht bestritten werden. Die folgenden Kapitel schauen auf die westdeutsche Demokratie durch die Linse des Föderalismus. Sie beschreiben die in der deutschen föderalen Tradition liegenden Chancen und Ermöglichungen für die Demokratie. Bereits vor der Revolution von 1848 waren deutsche Demokraten begeistert von der Demokratie in den jungen Vereinigten Staaten und von ihrem föderalen Aufbau. Erst nach 1848 und zumal nach 1871 diente der Föderalismus dazu, die Demokratisierung und die Parlamentarisierung im Kaiserreich zu blockieren. 1949 erfand der Parlamentarische Rat den demokratischen Bundesstaat nicht neu. Die entscheidenden Zäsuren des Bundesstaates lagen im 19. Jahrhundert. Die Verfassungsgebenden Versammlungen von 1848, 1867–71 und 1919 hatten Föderalismus und Demokratie immer wieder verschieden kombiniert. Auch 1949 fügten die Mütter und Väter des Grundgesetzes diese beiden Prinzipien neu zusammen. Der Föderalismus sollte jetzt anders als im Kaiserreich die Demokratie stärken. Darin liegt eine selten in den Blick genommene Traditionslinie der westdeutschen Demokratie.
Zusammenfassung
Föderalismus und Demokratie sind für uns selbstverständliche Merkmale der deutschen Gegenwartspolitik. Tatsächlich hatten sie eine lange und komplizierte Beziehungsgeschichte, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Das galt auch für die Geschichte der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1994. Föderale Institutionen griffen tief in die demokratische Politik ein. Dass Demokratie und Föderalismus, eine personale und eine territoriale Ordnung, ein Ganzes ergeben würden, war lange unsicher und schwer vorhersehbar. Mehrere Phasen ihres Verhältnisses lassen sich zwischen 1949 und 1994 unterscheiden. Der Bundesstaat wurde zum Haus der Demokratie.
Dieses Buch erzählt das Verhältnis von Föderalismus und Demokratie in vier Etappen und zwei Längsschnitten. Auf den Weg in den demokratischen Bundesstaat (1945-49) folgte der unitarische Bundesstaat (1949-1969), der kooperative Föderalismus (1969-1989), schliesslich die deutsche Wiedervereinigung und die vertiefte europäische Zusammenarbeit. Zusammengehalten wurde das hochkomplizierte System föderaler Politik von den Parteien im Bund und in den Ländern. Die widersprüchliche, kaum geradlinige, aber auch offene Aneignung von Demokratie ist ablesbar am Kulturföderalismus, am Verwaltungsföderalismus und an den finanziellen Beziehungen von Bund und Ländern.
Warum muss man dieses Buch gelesen haben?
Das Buch versucht zwei Dinge aufzuzeigen: zum einen wie Föderalismus und Demokratie zueinander fanden und sich etwas Drittes dabei ergab. Dafür hat die Literatur neue Begriffe gebildet: Parteienbundestaat, unitarischer Bundesstaat oder kooperativer Föderalismus. Zum anderen versucht das Buch, Probleme demokratischen Regierens oder – wie man heute sagt – demokratischer Governance vorzustellen. Demokratisches Regieren war kein festes Ziel oder ein Zustand, sondern veränderte sich immer wieder. In jedem Jahrzehnt seit 1949 bedeutete es etwas anderes.
Siegfried Weichlein, Föderalismus und Demokratie in der Bundesrepublik, Kohlhammer Verlag Stuttgart 2019.
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