Die Begrenzungsinitiative polarisiert – auch unter Professor_innen der Universität Freiburg. Während sich Ökonom Reiner Eichenberger für eine Annahme der Initiative einsetzt, ist Historiker Damir Skenderovic entschieden dagegen. Im Interview sprechen sie über die Vor- und Nachteile der Personenfreizügigkeit, mögliche wirtschaftliche Folgen und darüber, was für Studierende und Forschende auf dem Spiel steht.
Reiner Eichenberger, warum braucht es Ihrer Meinung nach ein Ja zur Begrenzungsinitiative?
Eichenberger: Weil die Personenfreizügigkeit eines der grössten Probleme ist, die die Schweiz hat. Die Schweiz soll langfristig attraktiv bleiben, und unseren Kindern und Enkeln soll es ebenfalls besonders gut gehen. Dafür benötigen wir hohe Lebensqualität, Wohlstand, gute Politik und natürlich auch Offenheit. Die Personenfreizügigkeit gefährdet das alles. Sie bringt nur Mengenwachstum: mehr Leute, mehr Arbeitsplätze, mehr Arbeitskräfte. Das grosse Problem dabei ist das schnelle Bevölkerungswachstum. Viele Ressourcen sind knapp: Etwa Umweltressourcen, Infrastruktur, Land oder Ausbildungsplätze. Diese zu vermehren verursacht überproportional steigende Kosten. Durch die Personenfreizügigkeit werden wir somit real ärmer. Das zerstört am Ende für den Normalbürger den Anreiz, für hohe Standortattraktivität zu sein, weil diese immer wieder durch zusätzliche Zuwanderung neutralisiert wird. Und wenn sich der Normalbürger nicht mehr für gute Standortpolitik interessiert, ist das in einer direkten Demokratie eine Katastrophe.
Damir Skenderovic, Sie werden am 27. September ein Nein in die Urne legen, warum?
Skenderovic: Mit einem Ja würde ein falsches Zeichen gesetzt, und es hätte nachteilige Konsequenzen für die Schweiz. Als Historiker erwähne ich dafür drei Gründe: Erstens ist die Schweiz seit jeher eng verflochten mit der Welt, Mobilität und Austausch sind historische Grundkonstanten. Eine Kündigung der Personenfreizügigkeit würde nun in eine völlig andere Richtung gehen. Zweitens wäre es ein fatales Signal gegenüber Europa, in einer Zeit, in der Bewegungen, die sich gegen die europäische Idee und für Grenzen einsetzen, vielerorts Aufwind haben. Drittens gingen der Frage, wie die Kooperation zwischen der Schweiz und Europa aussieht, langwierige Verhandlungen, jahrelange Diskussionen voraus. Nun ein Ja in die Urne zu legen, würde die Schweiz bezüglich bilateraler Verträge in eine stark geschwächte Verhandlungsposition gegenüber Europa manövrieren.
Die Gegner der Initiative heben die Guillotine-Klausel hervor. Mit einer Kündigung der Personenfreizügigkeit werden automatisch auch die übrigen sechs Abkommen der Bilateralen I ausser Kraft gesetzt. Was hätte das für Auswirkungen auf die Schweiz?
Eichenberger: Ein genauer Blick auf die Verträge zeigt, dass sie ökonomisch weit weniger bringen, als die meisten Leute meinen. Ein gutes Beispiel dafür ist der «Abbau technischer Handelshemmnisse». Die Schweiz hat einseitig alle technischen Normen der EU anerkannt. Und es geht in den Verträgen nur noch darum, ob die Normzeugnisse, die bestätigen, dass ein Produkt die EU-Normen einhält, in beiden Räumen anerkannt werden. Würde man das aufheben, wären die Kosten für eine doppelte Zertifizierung klein. Es gäbe aber eine noch einfachere Lösung. Die Schweiz könnte ganz einfach sagen: Wir akzeptieren alle EU-Normzeugnisse und alle Schweizer Firmen, die in den EU-Raum exportieren, würden zunächst ein EU-Normzeugnis lösen. Die Bilateralen I sind nicht gar nichts wert, aber wenn man sich im Einzelnen anschaut, wie die Schweizer Firmen auf ihren Wegfall reagieren könnten, dann muss man sagen: Sie sind wenig wert.
In Ihren Augen werden die Bilateralen I also überschätzt?
Eichenberger: Sie werden massiv überschätzt. Es gibt dann allerdings interessante offenere Bereiche. Zum Beispiel in Sachen Forschungsabkommen.
Skenderovic: Gerade aus Sicht der Universitäten ist die Frage der Mobilität und Zusammenarbeit zentral. Die Kündigung der Forschungsabkommen hätte für die Schweiz als Forschungsstandort und in Sachen Forschungskooperation schwerwiegende Folgen. Bereits die Erfahrungen nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative 2014 haben gezeigt, wie sich fehlende Rechtssicherheit und politische Unklarheit auf Studierende und Forschende auswirken. Studierende wussten nicht, ob sie im nächsten Jahr ein Erasmus-Semester machen können. Forschende wussten nicht, ob sie bei den europäischen Forschungs- und Bildungsprogrammen mitmachen können. Der Ausschluss aus diesen Programmen würde für die Universität Freiburg und alle anderen Forschungsinstitutionen in der Schweiz viele bestehende Partnerschaften, Kooperationen und Förderungsmöglichkeiten stark beeinträchtigen. In der heutigen Wissensgesellschaft sind Wissenschaft und Forschung aber mehr denn je eine zentrale ökonomische und soziale Ressource, gerade auch in der Schweiz.
Swissuniversities, die Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen, setzt sich ebenfalls gegen die Initiative ein. Sie erachtet die Personenfreizügigkeit und den Zutritt zu Forschungsprogrammen als zentral für den Bildungsstandort Schweiz. Wie beurteilen Sie die Situation, Herr Eichenberger?
Eichenberger: Die Schweiz hat seit jeher einen wunderbaren Forschungsaustausch. Wir hatten vor 2000 nie Probleme, auch ohne Personenfreizügigkeit war die Schweiz bestens integriert. Natürlich ist es anders, wenn man einen Vertrag kündigt. Für kurze Zeit wird Porzellan zerschlagen. Aber es gibt Alternativen: Die Schweiz ist richtig gerechnet ein massiver Nettozahler dieser Programme. Wenn wir mit den Mitteln, die wir dafür einsetzen, gute eigene Programme entwickeln, haben wir sogar eine hervorragende Alternative. Zudem ist es ein eurozentristisches Weltbild, die EU für so wichtig zu halten. Sie ist wissenschaftlich am Schrumpfen, gerade wenn man bedenkt, dass England nicht mehr mit dabei ist. Auch Asien und die USA wachsen wissenschaftlich im Vergleich zur EU dramatisch. Es ist deshalb nicht entscheidend, dass wir besonders gut in die EU eingebettet sind, sondern dass wir in die ganze Welt eingebettet sind. Natürlich ist es immer ein gewisses Risiko, einen neuen Weg zu beschreiten. Aber wir müssen das Risiko im Forschungsbereich vergleichen mit den Risiken, die es birgt, in Sachen Personenfreizügigkeit so weiterzumachen wie bisher. Letztlich wiegen die Vorteile der übrigen sechs Punkte der Bilateralen I die Nachteile der Personenfreizügigkeit niemals auf.
Sie sind Professor für Wirtschaftspolitik. Die Mehrheit der Ökonom_innen in der Schweiz kommt in ihren Studien zum Schluss, dass die Personenfreizügigkeit positive Effekte auf den Wohlstand in der Schweiz hat. Was beachten Ihrer Meinung nach all diese Leute nicht, was Sie auf dem Radar haben?
Eichenberger: Den Part mit der Mehrheit der Ökonomen können Sie gleich wieder vergessen. Eiverstanden, die Mehrheit der Ökonomen, die Studien im Auftrag des Bundes veröffentlicht hat, kommt tatsächlich zu diesem Schluss. Aber das ist eine Selektion von Ökonomen, das sind diejenigen, die bereit waren, eine Studie zu machen, die zu den gewünschten Ergebnissen für den Bund führen muss. Es wurden bloss die Bereiche untersucht, die genehm waren, etwa der Arbeitsmarkt. So lange wir einen flexiblen Arbeitsmarkt haben, verursacht die Zuwanderung dort nämlich keine Probleme. Das Problem liegt dort, wo wir Inflexibilitäten haben, dort wo wir nicht Produktionsfaktoren schnell zu gleichen Kosten ausbauen können. Zehn Prozent Zuwanderung über zehn Jahre ist überhaupt kein Problem für die Wirtschaft. Die kann einfach zehn Prozent mehr Arbeitsplätze produzieren. Das Kapital ist auf dem Weltmarkt frei verfügbar. Andere Faktoren können wir aber nicht einfach vermehren, etwa die Infrastruktur. So können wir die Verkehrskapazität nicht in zehn Jahren um zehn Prozent erhöhen oder den öffentlichen Verkehr entsprechend ausbauen, ohne stark überproportional wachsende Kosten.
Skenderovic: Für mich stellt sich grundsätzlich die Frage nach der Funktion und Zuverlässigkeit solcher Prognostik. In der Vergangenheit gab es immer wieder Momente, in denen aufgrund von Wachstum und Einwanderung bestimmte Situationen und Zustände vorhergesagt wurden – und am Ende kam es ganz anders heraus. Ein Beispiel: In den sechziger Jahren wurden Modelle entworfen, die besagten, die Schweiz werde im Jahr 2000 über zehn Millionen Einwohner haben. Es wurden ähnliche Diskussionen über Ausbau der Infrastruktur, Verschandelung der Landschaft oder angebliche «Überfremdung» des Landes geführt wie heute, die Leute sprachen davon, die Schweiz werde zubetoniert. Die angekündigten Entwicklungen sind jedoch nicht eingetroffen. Wie die laufende Kampagne für die Begrenzungsinitiative auch zeigt, sollen die geradezu apokalyptischen Prognoseszenarien in erster Linie Gefühle der Bedrohung und Angst schüren.
Fakt ist, dass es in den letzten Jahren stets eine Nettozuwanderung aus dem EU-Raum gab. Letztes Jahr betrug sie 32’000 Personen. Das Bundesamt für Statistik geht davon aus, dass bis 2040 zehn Millionen Menschen in der Schweiz leben. Es fallen vermehrt Begriffe wie Dichtestress. Sehen auch Sie mögliche Probleme in dieser Entwicklung, Herr Skenderovic?
Skenderovic: Bei Begriffen wie «Dichtestress» fehlt mir erstens die Verhältnismässigkeit. Im Vergleich zu London, New York oder Tokio kann für Schweizer Städte nicht ernsthaft die Rede von Enge und Verbauung sein. Zweitens handelt es sich um ein «Plastikwort», semantisch unscharf und inhaltlich vieldeutig, jeder stellt sich darunter etwas anderes vor. Hauptsächlich geht es darum, gesellschaftspolitische Fragen aus einer Bedrohungs- und Unwohlperspektive aus zu betrachten, es wird auf der Klaviatur der Gefühle und Befürchtungen gespielt. Schliesslich ist auch zu fragen, warum Mobilität im Zusammenhang mit dieser Abstimmung immer nur mit Einwanderung in die Schweiz verbunden und dann automatisch als negative Erscheinung präsentiert wird. Kaum wird darüber gesprochen, dass die Personenfreizügigkeit umgekehrt auch den Schweizerinnen und Schweizern dieselben Vorteile im EU-Raum bringt.
Eichenberger: Kein vernünftiger Mensch will Mobilität und Migration ganz stoppen. Halten wir jedoch weiter an der Personenfreizügigkeit fest, laufen wir gegen die Wand. Man kann nicht ständig weiter verdichten. Und so stellt sich irgendwann in den nächsten zehn Jahren die Frage: Wollen wir massiv neues Bauland einzonen, oder machen wir einen Vollstopp bei der Zuwanderung? Und natürlich wäre ein Vollstopp bei der Zuwanderung eine Katastrophe, deshalb müssen wir sie jetzt in vernünftige Bahnen lenken, es ist wohl die letzte Chance.
Da stellt sich noch ganz konkret die Frage: Wie sollte eine Begrenzung genau umgesetzt werden?
Eichenberger: Besser als Kontingente wäre eine Zuwanderungsgebühr, ähnlich einer Kurtaxe. Die Zuwanderung soll möglichst frei von bürokratischen Hürden sein, aber Neuzuwanderer sollen während einiger Jahre eine kleine finanzielle Zusatzabgabe leisten. Damit wäre ihre Steuer- und Abgabenbelastung immer noch tiefer als in der EU. Aber es hätte den gewünschten Steuerungseffekt, und die Einnahmen von je nach Modell 1,5 bis 3 Milliarden Franken jährlich gäben den Einheimischen wieder beste Anreize, für Offenheit und gute Politik einzustehen.
Skenderovic: Zuwanderungsgebühren in einem Land, das sich in der Mitte von Europa befindet? Das macht ehrlich gesagt ein wenig sprachlos. Nicht nur setzt es die Idee des «Sonderfalls Schweiz» in der Welt fort, sondern es stellt Migration gleichsam unter finanzielle Strafe. Zudem sollte bei der Frage, wie eine solche Begrenzung umgesetzt wird, nicht nur über ökonomische, finanzielle oder rechtliche Aspekte debattiert werden, so als handle es sich vor allem um eine technokratisch lösbare Frage. Mir scheint viel interessanter zu sein, nach der politischen und historischen Kontinuität dieser Initiative zu fragen. Wie wir wissen, gehört die Schweiz zu den Vorläufern des Rechtspopulismus im Nachkriegseuropa, seit den 1960er Jahren und der sogenannten Schwarzenbach-Initiative gibt es hierzulande eine lange Tradition von Initiativen und Akteuren, die gegen Immigration und Immigrierende politisieren.
Zu den Personen:
Reiner Eichenberger (Webseite) ist Professor für Theorie der Wirtschafts- und Finanzpolitik und seit 2017 Mitglied des Senats der Universität Freiburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die ökonomische Analyse des politischen Prozesses und politischer Institutionen.
Damir Skenderovic (Webseite) ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg und seit 2019 Mitglied des Senats der Universität Freiburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der radikalen Rechten, historische Migrationsforschung, Inklusion und Exklusion.
Zur Initiative:
Am 27. September stimmen die Schweizer Stimmberechtigten über die Volksinitiative «Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)» ab. Eingereicht wurde die Initiative im Sommer 2018 von der SVP. Die Initiant_innen wollen, dass das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU nachverhandelt wird – und zwar dahingehend, dass es keine freie Einwanderung mehr gibt. Dafür hätte der Bundesrat ein Jahr Zeit. Käme es zu keiner Einigung, müsste der Bundesrat das Abkommen anschliessend innert 30 Tagen kündigen.
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