«Das Leben wird, selbst wenn es am Ende wieder zur Normalität zurückkehrt, auf andere Weise normal sein, als wir es vor dem Ausbruch gewohnt waren», so der slowenische Philosoph Slavoj Žižek. Was wäre, wenn diese «andere und neue Normalität» dem Leben besser diente als jene davor? Muss man sich das fatalste Szenario ausmalen, oder gäbe es eine Möglichkeit, den Ausnahmezustand als Chance zu sehen, wie man global etwas positiv verändern könnte? Ist die «normale Normalität», zu der wir zurückkehren würden, wirklich erstrebenswert? – Ein Gastbeitrag von Dario Colombo, Diplomassistent am Departement für Glaubens- und Religionswissenschaft
Der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa würde diese letzte Frage verneinen. Denn die moderne westliche Gesellschaft hat ein fundamentales Problem, das sie zu lösen hat: die dynamische Stabilisierung. Es handelt sich dabei um eine gesellschaftliche Beschleunigung mit Eskalationstendenz, eine Beschleunigung, die nicht dazu dient, vorwärts zu kommen, sondern notwendig ist, um an demselben Ort zu bleiben, an dem man bereits ist. Die Folge dieser eskalativen Beschleunigung ist, dass jene, die nicht mehr fähig sind zu beschleunigen, gezwungen sind, aus dem «Rennen» auszusteigen. Dies zeigt sich besonders in der wachsenden Zahl von Burnouts und Depressionen. Auch der moderne Begriff der Working-Poor – Menschen, die trotz mehreren Arbeitsstellen und enormem Zeitaufwand arm bleiben – gehört zu derselben Schlagseite.
Eine neue Mentalität
Will man zu dieser Normalität wirklich zurück?! Was aber wäre eine alternative Lebensweise, wie liesse sich die Gesellschaft umdenken? Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Ulrich hat in seinem Buch Integrative Wirtschaftsethik einen herausragenden Entwurf dazu verfasst. So betont er die Notwendigkeit einer Ökonomie der Lebensfülle in einer Mentalität des Genug-Haben-Könnens anstelle einer endlosen Steigerung der Quantität verfügbarer Güter. Denn die endlose Steigerung von Konsumgütern, etc. führt nach Ulrich nie dazu, dass man «genug» hat, sondern fördert jeweils das Gegenteil: Modernisierung der Knappheit. Damit bezeichnet er die merkwürdige Beobachtung, dass mit dem Wirtschaftswachstum das Gefühl der Knappheit eher zu- statt abnimmt. Es entsteht ein objektiv feststellbarer defensiver Konsum, der die Lebensqualität zu verteidigen sucht, indem höhere Vorleistungen für die Erfüllung der Bedürfnisse erbracht werden. Z.B. muss man aus der härteren Arbeitswelt in die schönen Ferien fliehen oder braucht eine teure abgelegene Wohnung zur Erhaltung von Ruhe, etc. Dieser hat seine Begründung in einem subjektiv kompensatorischen Konsum: Die fehlende Fülle in der getätigten Arbeit wird durch Konsumgenuss zu kompensieren versucht.
Eine Ökonomie der Lebensfülle
Eine Ökonomie der Lebensfülle hingegen begrenzt sich auf das, was zum Leben notwendig ist. Nicht «Wie viel brauche ich zum Leben?», sondern «Wie wenig brauche ich zum Leben?» ist das Motto. Dies aber nicht in einem naiven Minimalismus, der postuliert, weniger sei mehr. In einer Ökonomie der Lebensfülle entsteht die Erkenntnis, dass die endlose Steigerung der Güter das Gegenteil hervorbringt: Immer mehr zu produzieren, zu konsumieren, zu beherrschen, führt nicht dazu, dass man genug hat, sondern dass noch mehr produziert wird. An dieser Stelle berührt sich die Analyse von Ulrich mit der von Rosa: die Welt wird beschleunigt, um zu beschleunigen. Auf der Strecke bleiben die Lebensfülle – und offensichtlich ganz existenziell die modern-wirtschaftlich Unzulänglichen. Was man zu erreichen suchte, gerät in unerreichbare Ferne, nicht weil es weit weg wäre, sondern weil es durch die Beschleunigung nicht mehr gehalten werden kann.
Den Teufelskreis verlassen
Eine Ökonomie der Lebensfülle erkennt diesen Teufelskreis und will aussteigen. Die Unmöglichkeit einer solchen Ökonomie der Lebensfülle liegt jedoch gerade in der normalen Normalität. Wollte eine Gruppe in unserer normalen Normalität eine Ökonomie der Lebensfülle leben, wäre sie der geltenden Wirtschaftslogik jeweils und notwendig unterlegen. Wer langsamer geht und seine Leistung nicht steigert, ist zum Ausstieg gezwungen. Die normale Normalität verunmöglicht eine Ökonomie der Lebensfülle, nicht weil sie nicht zu erreichen wäre, sondern weil sie kategorisch und methodisch durch dynamische Stabilisierung verunmöglicht wird.
Die Welt entschleunigen?
Nun hat der Ausbruch des Coronavirus offensichtlich die ganze Welt entschleunigt und auch die Steigerung massiv gedämpft. Es wäre also global möglich, sich darüber Gedanken zu machen, ob man alles wieder beschleunigt und steigert und so zu dieser normalen Normalität zurückkehren will. Wieso nicht jetzt eine neue Normalität gestalten? Man stelle sich eine Welt vor, in der nicht die Steigerung der Produktion das oberste handlungsleitende Prinzip, sondern die Freude an der Arbeit dafür maßgebend ist. Ist das utopisch? Ja natürlich, aber nicht, weil es keinen Ort für eine solches Verständnis gibt, sondern weil die Wirtschaft und die Konsumenten, diesen Ort nicht gewähren – und die Betroffenen ihn sich nicht nehmen. Stell Dir vor, es ist «normale Normalität», und keiner macht mit …
Wie könnte eine solche Ökonomie der Lebensfülle aussehen? Dies auszuarbeiten braucht selbstverständlich viel mehr als einen kurzen Artikel über ein mögliches Umdenken während der Coronakrise. Dieser potenzielle Veränderungsprozess betrifft uns alle, denn er beginnt hier an diesem Ort, bei allen Konsument_innen, bei allen Geschäften, in der Wirtschaft, in der Politik, bei den Arbeitgeber_innen und Arbeitnehmer_innen. Eine Welt, in der nicht beschleunigt wird, um zu beschleunigen, in der nicht gesteigert wird, um zu steigern, eine Welt, die nicht nach dem Motto «Wie viel?», sondern nach dem Motto «Wie viel ist genug?» lebt: Eine solche Welt ist möglich, und nur wenn sie real wird, ist das Leben auf eine wünschenswerte Weise wieder normal …
__________