Die Latinos sind bereits heute die grösste Minderheit in den USA. Welche Geschichten erzählen sie sich? Welche Bücher schreiben sie? Sebastian Imoberdorf ist diesen Fragen nachgegangen und hat dafür den Vigener-Preis erhalten. Ein Gespräch über Migration, Identitäten und den American Dream.
Herr Imoberdorf, Sie haben zur Literatur der Latinos in den USA doktoriert und dafür kürzlich den Vigener-Preis erhalten. Welche drei US-lateinamerikanischen Bücher sollte man denn gelesen haben – und weshalb?
Das ist keine leichte Aufgabe! Die US-Latino-Literatur ist breit, vielfältig und von hoher Qualität. Müsste ich mich auf drei Titel beschränken wären es die folgenden:
– Ein Klassiker ist sicherlich El Corrido de Dante [«Dantes Corrido»] von Eduardo González Viaña, der mit einem ironischen Augenzwinkern die Migration von Latinos in die USA thematisiert. Er stellt sie in Anlehnung an Dante Alighieris Göttlicher Komödie als Reise durch Hölle und Fegefeuer dar, die am Schluss ins vermeintliche Paradies führen soll.
– Als zweites würde ich den Roman Más allá del invierno [«Ein unvergänglicher Sommer»] von Isabel Allende nennen, der das Zeitgeschehen aufgreift und als Kritik am amtierenden US-Präsidenten und seiner Migrationspolitik gelesen werden kann.
– Eines meiner Lieblingsbücher ist jedoch Norte [«Norden»] von Edmundo Paz Soldán. Es skizziert sehr individuelle Migrationserfahrungen, hinterfragt stereotype Vorstellungen und verknüpft gekonnt verschiedene Genres, wie etwa den Migrations- und den Kriminalroman.
Wie sind Sie denn persönlich zu diesem Thema gekommen?
Migration beschäftigt mich schon lange. Auch meine eigene Familie besitzt eine kleine Migrationsgeschichte: Einige meiner Vorfahren sind im 19. Jahrhundert nach Argentinien ausgewandert, mein Grossonkel nach Kalifornien. Als ich an der Universität Freiburg ein Seminar zum Thema «US-Latino-Literatur» besuchte, fing ich unverzüglich Feuer und wusste, dass ich mich mit der Thematik vertieft auseinandersetzen wollte. Ich denke, dass das Migrationsthema immer schon gegenwärtig war, dass es aber im aktuell angespannten politischen Klima polemisch debattiert wird und auch künftig immer wieder hitzig diskutiert werden wird. Migrationsbewegungen gab es seit jeher und wird es auch immer geben. Das wird sich auch mit den stärksten Mauern nicht ändern lassen.
Mit welchen Themen setzen sich die US-Latino-Autor_innen denn besonders auseinander?
Die Frage der Identität beschäftigt die meisten Schriftsteller_innen. Dieser Diskurs hat sich in den letzten Jahrzehnten aber stetig weiterentwickelt. Während es in den ersten Werken vor allem um eine kollektive kulturelle Identität ging, hat sich die Identitätsfrage heute vervielfältigt und differenziert, was Verallgemeinerungen entgegenwirkt und die komplexe, heterogene Realität besser darstellt.
In meiner Dissertation stelle ich für die Literatur des neuen Jahrtausends zwei Tendenzen fest. Erstens kommen die Autor_innen davon ab, kollektive Migrationserfahrungen zu beschreiben. Sie bevorzugen individuelle Geschichten. Und zweitens gewinnt neben der kulturellen auch die soziale und sexuelle Identitätsbildung an Bedeutung. Es geht heute nicht mehr nur darum zu fragen, wer die Latinos sind, sondern wer die Latina bzw. der Latino ist. Immer häufiger wird auch der geschlechtergerechte Terminus «Latinx» verwendet.
Diese individuellen Migrationserfahrungen führen die Latinos aus eher konservativen in eine liberalere Gesellschaft. Finden die «Latinx» in den USA grössere Freiheiten? Und wie ergeht es da insbesondere Frauen und LGBTQI?
Das ist in der Tat so. Insbesondere Latinas und Mitglieder der LGBTQI-Gemeinschaft migrieren von einem Umfeld, das noch viel stärker von patriarchalischen und heteronormativen Strukturen geprägt ist in ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der soziokulturellen Diversität. Das klingt positiv, die Wirklichkeit sieht jedoch häufig etwas anders aus. Dies zeigt zum Beispiel der Erzählband Historias prohibidas de Marta Veneranda [«Die verbotenen Geschichten von Marta Veneranda»] der lesbischen Autorin Sonia Rivera-Valdés. Den vorwiegend weiblichen Figuren fällt es oft schwer, in der neuen Heimat eine Rolle zu finden, die sich nicht ausschliesslich auf das Häusliche beschränkt. Sie haben Mühe, sich aus dem auferlegten Korsett der Ursprungsgesellschaft zu lösen und soziale Normen und Tabus zu durchbrechen. Interessant ist dabei, dass auch die lesbischen Figuren die von ihrer Ursprungskultur geerbten Rollenverteilungen (aktiv vs. passiv) im neuen Kontext zunächst reproduzieren, sie dann aber hinterfragen und schliesslich aufzuheben versuchen. Zu all diesen Schwierigkeiten kommt die Konfrontation mit rassistischen Verhaltensmustern hinzu, die die Eingliederung in die Gastgesellschaft zusätzlich erschweren.
Wie wird denn die Migration in der US-Latino-Literatur beschrieben? Mit welchen Hoffnungen machen sich die Leute auf den Weg und auf welche Schwierigkeiten stossen sie?
Die Motive für die Migration sind sehr vielfältig. Ein häufiger Auslöser ist die instabile politische Lage in den lateinamerikanischen Ländern – etwa die Diktaturen, die Bürgerkriege oder auch der Drogenhandel in Kolumbien und Mexiko. In Zusammenhang damit kann der Wunsch nach freier sexueller Entfaltung stehen. In Reinaldo Arenas novellistischer Autobiografie Antes que anochezca [«Bevor es Nacht wird»] geht es zum Beispiel um die Verfolgung von Homosexuellen unter dem Castro-Regime, während welchem viele Mitglieder der LGBTQI-Gemeinschaft aus Kuba flohen. El sueño de América [«Américas Traum»] von Esmeralda Santiago wiederum handelt von häuslicher Gewalt und davon, wie die puerto-ricanische Protagonistin América diesen Teufelskreis durchbricht, indem sie in New York ein selbstständiges, neues Leben beginnt. Und nicht zuletzt ist der vielzitierte American Dream ein wiederkehrendes Motiv. Viele Latinos migrieren gen Norden, weil sie dort Arbeit, Erfolg und bessere Lebenskonditionen für sich und ihre Familien zu finden hoffen. Diese Vielfalt von Gründen spiegelt auch die Realität wider, denn jede Migrationsgeschichte ist individuell.
Auf dem Weg in die USA lauern vor allem auf «illegale» Migranten viele Gefahren. Aufgrund ihres irregulären Status wählen sie versteckte und gefährliche Wege und durchqueren etwa den Río Bravo oder die Wüste. Andere reisen auf dem Dach des Güterzugs La Bestia [«Die Bestie»], wo sie Gefahr laufen, herunterzufallen oder von kriminellen Banden ausgeraubt und, im Falle der weiblichen Migrantinnen, vergewaltigt zu werden. All dies wird in der US-Latino-Literatur thematisiert und beschrieben.
Die Latinos sind die grösste Minderheit in den USA. Es gibt mehr Latinos, als Schwarze. Wo leben diese Leute? Was arbeiten sie? Und wie finden die Latinos einen Platz in den USA?
Einmal in den USA angekommen warten weitere Schwierigkeiten auf die Latinos: der Kulturschock, das Fehlen von Papieren und folglich von Arbeit. In meiner Dissertation habe ich mich auf das Konzept der Akkulturation berufen, in dem untersucht wird, inwieweit sich die Migrant_innen in die Gastgesellschaft eingliedern. Lehnen sie die neue Kultur ab und führen sie ihr altes Leben in sogenannten Enklaven weiter? Integrieren sie sich, ohne dabei Werte und Gepflogenheiten zu verlieren? Oder passen sie sich sogar so stark an, dass sie mit ihrer Ursprungskultur brechen? Auch hier sind die Erfahrungen in den Romanen sehr unterschiedlich. Im untersuchten Korpus werden dabei etwa Gastarbeiter ohne Papiere, Angehörige der Mittelklasse, aber auch Universitätsprofessoren dargestellt – was wiederum sehr gut der heterogenen Realität der Latinos in den USA entsprechen dürfte.
Wie steht es denn um die Erfolgsgeschichten?
Die gibt es natürlich. Jedoch erfüllt sich der American Dream nicht für alle, für manche wird er sogar zu einem American Nightmare. Die Idee, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen, wird den Latinos durch berühmte Persönlichkeiten wie etwa Jennifer Lopez, Salma Hayek, Ricky Martin oder Benicio del Toro vorgelebt. Dazu kommen die Erfahrungsberichte von Verwandten, die es in den USA «geschafft» haben, die sich ein regelmässiges Einkommen erarbeitet und ein neues Leben aufgebaut haben. Viele vergessen jedoch, dass solche Erfahrungen nicht für alle gelten und dass der Weg zum Erfolg ein langer und harter ist.
Die Migration (going west) und die Hoffnung auf ein besseres Leben sind eigentlich ur-amerikanische Motive. Kommt die Latino-Literatur denn auch ausserhalb der Community an? Und wird sie als amerikanische Literatur verstanden?
Die US-Latino-Literatur findet sogar sehr grossen Anklang. Beweise dafür sind das Erscheinen verschiedener Werke auf der New York Times bestseller list, die Schaffung von Latino Studies-Lehrstühlen an zahlreichen Universitäten und die Diskussion der Thematik im akademischen wie auch im öffentlichen Leben. Verwunderlich ist dies nicht, wenn man bedenkt, dass fast 60 Millionen Menschen hispanischer Herkunft in den USA leben. Die US-Latinos sind mehr als eine Minderheit, sie sind eine Realität und ihre Literatur kann auf jeden Fall als amerikanische verstanden werden. Man könnte sogar noch weiter gehen und sagen, dass sie sowohl als nord- als auch als lateinamerikanische Literatur betrachtet werden kann.
Jedoch sollte meines Erachtens zwischen Englisch und Spanisch verfassten Texten unterschieden werden. Die englischen Werke stossen sicher in der Gesamtgesellschaft auf grösseres Interesse, da sie für ein breiteres Publikum zugänglich sind – auch für Latinos der dritten oder vierten Generation, die in die US-amerikanische Gesellschaft hineinwachsen und manchmal gar kein Spanisch mehr sprechen, aber auch für diejenigen englischsprachigen US-Amerikaner, die sich ganz einfach für die Thematik interessieren. Mein persönlicher Anreiz war es jedoch, in meiner Doktorarbeit die Romane spanischsprachiger US-Latinos zu behandeln, da deren Literatur, im Vergleich zur englischsprachigen, erst sehr rudimentär untersucht wurde. Darin sah und sehe ich weiterhin enormes Potential.
Welche Rolle spielt denn das Spanische heute im amerikanischen Alltag? Als ich vor einigen Jahren in Kalifornien war, sah ich beispielsweise zweisprachige Werbungen und Restaurants, die Stellen für Küchenpersonal gar ausschliesslich auf Spanisch ausschrieben.
Spanisch spielt im amerikanischen Alltag eine sehr grosse Rolle. Bereits jetzt ist es die erste und wichtigste Fremdsprache und gemäss Schätzungen sollen die USA im Jahr 2060 sogar das zweitgrösste spanischsprachige Land der Welt sein. Diese Entwicklung findet sich natürlich auch in der US-Latino-Literatur – in der spanisch- wie auch in der englischsprachigen. Die Romane weisen einen hohen Anteil an Spanglish (Mischform aus Englisch und Spanisch) auf und auch das sogenannte Code-Switching (Wechsel von einer Sprache zur andern innerhalb einer Äusserung) ist ein fester Bestandteil der Texte. Auffallend ist dabei, dass diese Stilmittel vor allem in Zusammenhang mit der Identitätsfindung benutzt werden.
Was denken Sie, worüber schreiben Latino-Autor_innen in 10, 20 oder 50 Jahren?
Einerseits werden sich US-Latino-Autor_innen wohl weiterhin am Zeitgeist orientieren. So überrascht es beispielsweise nicht, dass es bereits literarische Reaktionen auf die gegenwärtige Migrationspolitik gibt. Neben dem eingangs erwähnten Roman von Isabel Allende setzt sich auch der peruanisch-amerikanische Schriftsteller Eduardo González Viaña in La frontera del paraíso («Die Grenze zum Paradies») damit auseinander und schenkt dem aktuellen Präsidenten sogar eine explizite Widmung («Dieses Buch ist Donald Trump gewidmet, damit er weiss, wer wir sind und dass Hass eine absurde Sache ist»).
Zum anderen werden künftig wahrscheinlich weitere Tabus gebrochen und artistische Genres miteinander vermischt werden. Obwohl es bereits einige Werke zur sexuellen Identität von US-Latino-Autor_innen gibt, kann ich mir gut vorstellen, dass in den nächsten Jahren auch die Frage der Geschlechteridentität vermehrt thematisiert wird: Wie sieht beispielsweise die Migration von transsexuellen oder geschlechtsneutralen Migrant_innen aus? Aber auch das Vermischen verschiedener Gattungen ist ein Trend, der sich künftig akzentuieren wird. Schon heute gibt es Schriftsteller_innen, wie etwa Carmen María Machado oder Edmundo Paz Soldán, die das Thema der Migration in den Kontext der Horrorliteratur setzen. Andere stellen die Realität der US-Latinos in Graphic Novels dar.
Zum Schluss noch die Frage: Was waren denn die besonders schönen Momente im Verlauf Ihrer Diss?
Ein Highlight war sicher mein Forschungsaufenthalt an der University of California, Santa Barbara, wo ich mich in situ mit der Thematik auseinandersetzen konnte. Dabei habe ich viele namenhafte Experten kennengelernt und sogar Interviews mit ihnen geführt, die ich dann auch für meine Analyse verwenden konnte. Besonders bereichernd war während dieser Zeit auch der telefonische und schriftliche Kontakt zu einigen Autor_innen. So hatte ich unter anderem die Ehre, Isabel Allende und Edmundo Paz Soldán zu interviewen, die meiner Dissertation mit ihren interessanten Beiträgen nochmals eine ganz besondere und persönliche Note verliehen haben. Alle Interviews findet man übrigens im Anhang meiner Dissertation.
Sehr schön finde ich aber auch, dass die US-Latino-Literatur auch bei meinen Studierenden grossen Anklang findet und ich sogar schon Vorschläge für Bachelor- und Masterarbeiten erhalten habe. Ich bin zuversichtlich, dass daraus viele interessante Studien hervorgehen werden. Und natürlich werde auch ich selbst mich weiterhin diesem Thema widmen und neue Tendenzen mitverfolgen.
__________- Mit dem 1908 gestifteten Joseph-Vigener-Preis, der mit mindestens 1000 Franken dotiert ist, werden herausragende Doktorarbeiten ausgezeichnet. Der Vigener-Preis wurde in diesem Jahr ex-aequo an Diletta Guidi und an Sebastian Imoberdorf verliehen. Den Bericht zur anderen Dissertation finden Sie hier.
- Tellerwäscher im Niemandsland - 11.02.2021
- Wie Freiburgerinnen für das Stimmrecht kämpften - 05.02.2021
- Im Spannungsfeld zwischen Lehrpersonen und Schüler_innen - 30.11.2020