Mit i-BEAT hat die Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie ein progressives Online-Behandlungsprogramm für Jugendliche und junge Erwachsene mit Essanfällen entwickelt. Im Interview erklären Professorin Simone Munsch sowie die Doktorand_innen Verena Müller und Adrian Naas, wie es genau funktioniert und warum das nur der Anfang sein soll.
Der Begriff i-BEAT ist ein Wortspiel, aber auch die Abkürzung für Binge Eating Adolescent And Young Adults Treatment. Was steckt genau hinter dem Begriff?
Adrian Naas: i-BEAT ist eine gross angelegte Studie, die sich mit der Behandlung von jungen Leuten zwischen 14 und 24 Jahren befasst, die an der Binge-Eating-Störung oder an Loss of Control-Eating leiden. Sie beinhaltet vier Teilstudien: Zu Beginn führen wir mit 600 Personen ein Screening durch, lassen sie einen Online-Fragebogen ausfüllen. Dort geht es um das allgemeine Wohlbefinden, aber auch um die Pathologie von Essstörungen. Anschliessend versuchen wir, möglichst viele dieser Personen mitzunehmen.
Wohin?
Verena Müller: In die App-basierte Tagebuch-Studie, in der wir uns genauer anschauen, wie sich die Tagesabläufe der Personen mit diesen Essstörungen von denjenigen gesunder Personen unterscheiden. Dazu beantworten die Teilnehmer_innen auf ihrem Handy während einer Woche dreimal täglich einige Fragen.
Adrian Naas: Danach können wir sie in einem dritten Schritt hoffentlich ins Labor weiterführen, wo uns ein Ballspiel in der virtuellen Realität Aufschlüsse über gewisse interpersonale Verhaltensweisen gibt. Im vierten Schritt kommen die Teilnehmer_innen in die Behandlungsstudie. Leiden sie an einer der Störungen, können sie am Online-Behandlungsprogramm teilnehmen.
Wie läuft die Online-Behandlung genau ab?
Adrian Naas: Sie funktioniert nach dem Prinzip der angeleiteten Selbsthilfe. Wir schreiben personalisierte Nachrichten, gleichzeitig gibt es für die Teilnehmer_innen Module, die sie durcharbeiten, in denen sie Teile der Therapie online selbst absolvieren können. Konkret findet nach der Anmeldung erst einmal ein persönliches diagnostisches Interview statt. Die Plattform kann man sich dann vorstellen wie ein Lehrbuch, in dem man unterschiedliche Übungen macht. All diese Übungen und Antworten werden wöchentlich von einem Coach oder einer Coachin angeschaut. Diese betreuende Person gibt dann auch die persönliche Rückmeldung. Das läuft während drei Monaten so ab.
Wie ist die Idee zu i-BEAT entstanden?
Simone Munsch: Die neuen Technologien interessieren mich schon lange – gerade im Hinblick auf die Psychotherapieforschung. In Freiburg konnte ich zunächst eine Online-Behandlung für Erwachsene etablieren und dabei feststellen, dass diese sehr effektiv war. Es ging auch da um Binge-Eating-Störungen. Die Teilnehmer_innen haben in ihren Rückmeldungen gesagt, dass sie die Anonymität und den einfachen und ortsunabhängigen Zugang sehr geschätzt haben. Mit dabei waren beispielsweise eine Flight Attendant oder ein Informatiker, die nie in eine Psychotherapie gekommen wären, wenn sie nicht online den Zugang gefunden hätten. Jugendliche sind ebenfalls eine Klientel, die man sehr schwer in eine Psychotherapie bringt. Gleichzeitig befinden sie sich jedoch in der Lebensphase, in der sich psychische Störungen erstmals manifestieren. Deshalb wollte ich die Behandlungsform für Jugendliche anpassen und zugänglich machen. Mich interessiert aber nicht nur die Behandlung, sondern auch die Ursache. Deshalb habe ich es kombiniert mit der Screening-Studie und der Labor-Studie, in denen man mögliche ätiologische Faktoren herausfinden und untersuchen kann.
Welche ersten Rückmeldungen haben Sie erhalten?
Adrian Naas: Es ist alles noch ganz frisch, die ersten Rückmeldungen beschränken sich deshalb vor allem darauf, dass alles funktioniert. Das ist schon einmal beruhigend, denn die technische Umsetzung war nicht immer einfach.
Verena Müller: Wir befinden uns auch noch immer in der Rekrutierungsphase, bis jetzt haben sich rund 120 Personen für das Screening angemeldet. An Schulen, an der Uni oder auch auf Instagram versuchen wir derzeit, an weitere Jugendliche und junge Erwachsene, die an Binge-Eating und Loss of Control-Eating leiden, heranzukommen.
Simone Munsch: Wir haben bereits Daten aus unserer Vorläuferstudie. In dieser boten wir eine Mischung aus Präsenz- und Mail-basierter Behandlung an. Damals erhielten wir oft die Rückmeldung, dass es noch besser wäre, alles online zu machen. Grundsätzlich waren die Jugendlichen und jungen Erwachsenen jedoch sehr zufrieden und haben profitiert. Gleichzeitig konnten wir ein Gespür für die klinische Arbeit online entwickeln. Jugendliche sind normalerweise sehr belastet, wenn sie sich bei uns melden – selbst mit einer solchen isolierten Essstörung, die im Vergleich zur Anorexia oder Bulimia Nervosa wirksamer behandelt werden kann. Sie erlebten teilweise Traumata, sind sehr häufig suizidal. Wir mussten deshalb im Team erarbeiten, wie wir beispielsweise mit Antworten umgehen, die auf eine erhöhte Suizid-Gefahr hindeuten. Was muss man machen? Wie erreicht man die Patient_innen? Wann muss man handeln? Wann bleibt man ruhig? Diese Erfahrung ist essenziell, sonst hat man keine ruhige Minute. Was wir auch gelernt haben: Man kann sehr effizient handeln und helfen, ohne dass man eine Person auch nur ein einziges Mal gesehen hat. Das ist bemerkenswert.
Wo liegen die Hauptvorteile gegenüber klassischer Psychotherapie?
Simone Munsch: Die Niedrigschwelligkeit und Anonymität sind hilfreich. i-BEAT hat aber noch einen riesigen Vorteil, ganz unabhängig von der Art der Therapie: Es gibt noch keine evidenzbasierte Psychotherapie für Essanfallsstörungen im Jugendalter – wir sind die Einzigen. Und dadurch, dass wir sie online anbieten, können Jugendliche aus der ganzen Schweiz oder auch aus Deutschland, Österreich und Luxemburg mitmachen.
Wo stösst diese Art von Onlinetherapie mit angeleiteter Selbsthilfe an ihre Grenzen?
Verena Müller: Wenn die technischen Installationen oder Fähigkeiten fehlen. Wenn das Gefühl der Überforderung entsteht, ist das schlecht. Die Stärke der Belastung spielt ebenfalls eine Rolle. Wenn jemand akut von Suizidalität berichtet, ist der Moment gekommen, ihn oder sie von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
Simone Munsch: Wenn in den Antworten ersichtlich ist, dass die Depressivität steigt oder die Essanfälle deutlich zunehmen, gibt es ein standardisiertes Prozedere. Wir wechseln dann von der manualisierten zur individualisierten Therapie.
Ist Onlinetherapie die Behandlungsform der Zukunft?
Simone Munsch: Davon bin ich überzeugt. Es wäre ein Fehler, sie zu negieren. Gesundheitspolitisch ist es eine Katastrophe, dass Jugendlichen, die naturgemäss stark belastet sind, keine auf sie zugeschnittene Behandlung angeboten werden kann. Derzeit übernehmen die Krankenkassen die Kosten von Online-Behandlungen nicht. Darin spiegelt sich die negierende Haltung wider. Aber ich bin überzeugt, dass sich das ändern wird. Wir haben als Forschungsprojekt zum Glück die Möglichkeit, eine Gratisbehandlung anzubieten.
Ist dieses Therapiekonzept auch auf die Behandlungen anderer Störungen anwendbar?
Simone Munsch: Ja, von den Störungsbildern, zu denen wir Daten haben, gibt es nur ganz wenige, die man online nicht gut behandeln kann. Wir werden jetzt mit i-BEAT testen, ob die herkömmliche Art der Behandlung mit kognitiver Verhaltenstherapie verbessert werden kann, wenn man ein Training im Umgang mit starken Emotionen hinzufügt. Das Modul Emotionsregulation ist ein Kernmerkmal von jeder psychischen Störung. Es gibt Belege dafür, dass man mit einem solchen Modul auch Depressionen und Angststörungen weitgehend behandeln könnte. Das ist auch der Plan des neu geschaffenen digitalpsychotherapylab, in das i-BEAT integriert ist. Wir wollen in einem nächsten Schritt dahingehend Anpassungen vornehmen, dass die Therapie auch auf die häufigsten psychischen Störungen anwendbar ist.
Dann ist i-BEAT ist also der Start von etwas Grösserem?
Simone Munsch: Genau.
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- Simone Munsch ist ordentliche Professorin am Departement für Psychologie der Universität Freiburg. Unter ihrer Leitung wurde i-BEAT entwickelt. Verena Müller und Adrian Naas sind als Doktorand_innen an der Entwicklung und Umsetzung beteiligt.
Wie äussern sich Binge-Eating und Loss of Control-Eating?
Im Fokus von i-BEAT stehen die Krankheitsbilder Binge-Eating und Loss of Control-Eating. Wie äussern sich die genau? «Beim Binge-Eating sind Essanfälle das Hauptmerkmal. Innert kurzer Zeit werden grosse Mengen gegessen – und im Anschluss entstehen dann Scham- und Schuldgefühle. Es gibt also einen vorübergehenden Kontrollverlust. Das ist auch beim Loss of Control-Eating der Fall. Bei diesem Krankheitsbild muss die Nahrungsmenge zwar nicht übermässig gross sein, das schlechte Gefühl des Kontrollverlusts ist aber trotzdem da», erklärt Verena Müller. «Ergänzend gilt es für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserem Programm zu sagen: Sie sind alle depressiv und sozial ängstlich, viele sind suizidal und schwer belastet», schliesst Simone Munsch.
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