Mit ihrer Dissertation «Bleiberecht in der Gastroküche» hat Jacqueline Kalbermatter gerade den Nachwuchspreis für Arbeitssoziologie, industrielle Beziehungen und Gewerkschaftsforschung in der Schweiz gewonnen. Sie sagt, der Titel sei sarkastisch.
Frau Kalbermatter, herzliche Gratulation zum Preis. Salopp formuliert dreht sich Ihre Arbeit um «Tellerwäscher» – aber von wem reden wir hier ganz konkret?
Danke. Der Fokus meiner Dissertation liegt auf geflüchteten Arbeiter_innen mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Das ist in der Schweiz ja relativ kompliziert. Einerseits geht es um Leute mit Status N – also Personen, die in einem Asylverfahren sind und auf einen Entscheid warten. Andererseits geht es um Leute mit Status F – also Menschen, die einen Wegweisungsentscheid erhalten haben, bei denen aber sogenannte «Wegweisungsvollzugshindernisse» vorliegen. Beispielsweise, weil in ihrer Heimat Krieg herrscht. Und drittens geht es um abgewiesene Asylsuchende, die einen Wegweisungsentscheid erhalten, die Schweiz aber nicht verlassen haben. Ihr Aufenthalt in der Schweiz gilt als illegal. Allen gemein ist, dass ihr Aufenthalt mit immensen Unsicherheiten und fehlenden Rechten verbunden ist.
Da sind wir tief in den Mühlen der Migrationsbürokratie. Sprechen wir denn da von vielen Leuten?
Über den Daumen sind es vielleicht 60’000 Personen. Aber bei diesen zeigen sich Mechanismen, die auch sonst im Migrations- und Arbeitsbereich relevant sind.
Diese Leute mit unsicherem Aufenthaltsstatus arbeiten unter anderem in Küchen von Gastronomiebetrieben. Wie haben sie deren Lebens- und Arbeitsumstände nun untersucht?
Ich habe Gastro-Unternehmer_innen interviewt, habe mit den Arbeiter_innen selbst gesprochen und habe eine ethnographische Feldstudie gemacht – ich bin also auch selbst in diese Küchen arbeiten gegangen. Dabei hat mich interessiert, wie die Dynamiken und Strukturen in diesen Küchen sind.
Es ging mir bei meiner Dissertation darum, Migrations- und Arbeitssoziologie zusammenzubringen. Ich wollte untersuchen, was die migrationspolitischen Regulierungen im konkreten Arbeitsalltag der Menschen für Auswirkungen haben. Ich fand das auch deshalb relevant, weil im Asylbereich immer wieder Experimente durchgeführt werden, die später auf andere Personengruppen ausgedehnt werden.
Wie muss man sich denn den Alltag in diesen Küchen vorstellen?
Im Arbeitsalltag der Abwaschküche ist man einer hohen Belastung ausgesetzt. Es ist eine immense physische Verausgabung. Dazu gehört etwa das Heben und Tragen schwerer Töpfe, das Schrubben verkrusteter Pfannen und das Ausräumen des heissen Geschirrs aus der Spülmaschine. Auch ist die Arbeit zumeist mit einer äusserst hohen Arbeitsintensität verbunden.
Es gibt in den Küchen verschiedene Arbeiten, vom Tellerwäscher bis zum Sternekoch. Die unterscheiden sich nach Ansehen und Lohn. Zugleich unterscheiden sich die Leute, die die Arbeiten verrichten, nach geografischer Herkunft und nach dem Aufenthaltsstatus. Meine These ist, dass die Geflüchteten mit unsicherem Aufenthaltsstatus auf der untersten Stufe der betriebsinternen Hierarchie landen.
Da kann man sagen: Gut, die können die Sprache nicht, sind vielleicht schlecht ausgebildet. Meine Frage aber zielt in eine andere Richtung. Warum kommen die Leute da nicht raus?
Und? Warum kommen sie da nicht raus?
Die Arbeitsverhältnisse werden durch ihren unsicheren Aufenthaltsstatus beeinflusst. Für sie ist es schwierig, überhaupt eine Arbeitsstelle zu besetzen. Gleichzeitig stellt eine Arbeitsstelle die einzige Möglichkeit für ein Bleiberecht in der Schweiz dar, mit dem sie sich aus der unsicheren Aufenthaltssituation hieven können. Die Leute tun alles, um eine Aufenthaltsbewilligung, also eine B-Bewilligung zu erhalten. Also sind sie bereit, auch unter prekären Verhältnissen weiterzuarbeiten. – Der Titel meiner Arbeit ist durchaus sarkastisch gemeint. Die Menschen haben die Aussicht auf ein Bleiberecht, wenn sie in der Küche bleiben.
Haben Sie dazu vielleicht ein konkretes Beispiel?
Ich habe eine Person kennengelernt, die schon seit über 15 Jahren in der Schweiz ist, einen F-Ausweis hat und verschiedene Stellen gehabt, aber diese immer wieder verloren hat. Und das nicht, weil sie gekündigt hätte – das tun die Leute, mit denen ich zu tun hatte, eigentlich allgemein nicht, weil sich dadurch die Aussicht auf eine feste Aufenthaltsbewilligung verschlechtert.
Die betreffende Person hat eine grosse Familie, die Gastrolöhne sind da einfach nicht existenzsichernd. Ein existenzsichernder Lohn ist aber die Voraussetzung, damit man eine feste Aufenthaltsbewilligung erhält. Man muss sozialhilfeunabhängig sein. Das ist aber sehr schwierig, weil in der Gastronomie oft auf Abruf gearbeitet und im Stundenlohn bezahlt wird.
Wenn das Restaurant an einem freien Tag anrief und sagte «Wir haben Leute, du musst kommen», dann kam die Person. Wenn sie dann doch nicht gebraucht wurde, hat sie auch das akzeptiert, und so weiter. Sie sagte: «Wenn ich schon mal eine Stelle habe, dann halte ich auch daran fest und mache alles mit. Denn das ist mein einziger Weg, um aus meiner unsicheren Aufenthaltssituation herauszukommen.»
Das Beispiel ist typisch: Stundenlohnbeschäftigte haben stets die Hoffnung, festangestellt zu werden. Und Festangestellte tun alles, um nicht in den Stundenlohn, die Arbeitslosigkeit und die Sozialhilfe zurückgeschleudert zu werden.
Wie kommt man denn überhaupt zu diesem gelobten B-Status?
Als Geflüchtete_r mit unsicherem Aufenthaltsstatus kann man ein Härtefallgesuch stellen. Voraussetzung für einen Erfolg sind aber mindestens 5 Jahre Aufenthalt in der Schweiz, diverse weitere Bedingungen sowie eine Stelle, die sichert, dass man nicht auf die Sozialhilfe angewiesen ist. Wie immer gibt es kantonale Unterschiede. Meine Studie lief im Kanton Bern und hier muss man mindestens ein Jahr lang eine feste Stelle haben. Ausnahmen gibt es nur für Spezialfälle wie Alleinerziehende.
Ohne B-Bewilligung hat man tiefere Ansätze in der Sozialhilfe, kann die Familie nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen nachziehen und hat ganz allgemein mit vielen Unsicherheiten und fehlenden Rechten zu kämpfen.
Und die Gastrounternehmer_innen nutzen die Verletzlichkeit der Geflüchteten aus?
In der Studie geht es nicht darum, die Unternehmer_innen allgemein als Sklaventreiber anzuprangern – das braucht es auch nicht. Man muss die Leute nicht anpeitschen, länger oder härter zu arbeiten. Viele tun das ohnehin, weil sie so sehr auf die Arbeitsstelle angewiesen sind.
Manche Vorgesetzte beschäftigen Geflüchtete durchaus aus humanistischen Motiven. Sie sprechen etwa davon, dass sie bei der sogenannten «Integration» helfen und ihnen eine «Chance» geben wollen. Aber erstens unterliegen auch sie einer unternehmerischen Logik und die tiefen Margen in der Gastronomie erlauben wenig Spielraum. Und zweitens gehen auch mit humanistischen Argumentationen Kulturalisierungen von Geflüchteten einher.
Wie liesse sich die Situation der Leute denn nun verbessern?
Diese Frage hat mich auch sehr beschäftigt. Ich habe eine utopische Antwort und eine reformistische. Die utopische wäre, dass wir uns überlegen, was Migrationspolitik eigentlich bedeutet und dass wir zum Schluss kommen, das heutige Migrationsmanagement abzuschaffen. Die reformistische Variante wäre, dass die Koppelung von Arbeits- und Aufenthaltssituation aufgelöst wird.
Man sollte Fragen wie Familienzusammenführung von der Arbeit unabhängig machen. Und man sollte sich überlegen, inwiefern die vielen verschiedenen Status-Kategorien überarbeitet werden können. Ganz allgemein sollte die Exklusion der Rechte überwunden werden. Rechte, die für den Rest der Gesellschaft ganz selbstverständlich gelten, sollten auch für diese Menschen gelten. – Aktuell geht es allerdings eher in die andere Richtung …
Wer könnte etwas bewegen, damit es für die Geflüchteten in eine bessere Richtung geht?
Gewerkschaften oder soziale Bewegungen, die sich für Antirassismus engagieren. Diese müssten zeigen, dass Arbeit und Asyl zusammenhängen. Und das erscheint logisch am Ende eines solchen Gesprächs, aber es ist etwas, das den meisten Menschen nicht bewusst ist. Das skizzierte Bild ist oft «Beim Asyl gehts um Schutz, das hat nichts mit Arbeit zu tun». Aber Asylpolitik ist de facto eben auch Arbeitsmarktpolitik.
Und sobald man einer bestimmten Gruppe bestimmte Rechte verwehrt, hat das für diese auch massive Konsequenzen im Arbeitsmarkt. Man kann die Frage auch umdrehen: Was passiert mit diesen Menschen, wenn sie eine stabile Aufenthaltsbewilligung und somit mehr Rechte erhalten? Welchen Effekt hat das auf ihre Biografien? Das würde mich brennend interessieren. Dazu braucht es aber definitiv noch mehr Forschung.
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Publikation «Bleiberecht in der Gastro-Küche. Migrationspolitische Regulierungen und Arbeitsverhältnisse von Geflüchteten mit unsicherem Aufenthaltsstatus.»
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