Victor Lindblom wurde am Dies academicus 2022 der Unifr mit dem Vigener-Preis geehrt. Ein Gespräch über eine Arbeit, die viele begeistert.
Victor Lindblom, Ihre Dissertation trägt den Titel «Vorstellungen und Überzeugungen – Zur Grenzziehung zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählwerken mit Untersuchungen zu Max Frischs Montauk und Lukas Bärfuss’ Koala». Darin befassen Sie sich mit der Bestimmung der Fiktionalität eines Textes.
Was genau muss mensch sich darunter vorstellen und warum ist das Konzept umstritten?
Fiktionalität und Nichtfiktionalität sind Eigenschaften, die wir verschiedenen Formen sprachlicher Äusserungen innerhalb der zwischenmenschlichen Kommunikation zuschreiben. Im Alltag ist unser intuitives Verständnis der Konzepte oft ausreichend, um zu wissen, womit wir es zu tun haben. Die Frage, worauf diese Praxis im Detail beruht – warum wir also einer einzelnen Äusserung, einer Erzählung oder einem komplexen Erzählwerk die Eigenschaft zuschreiben, fiktional oder nichtfiktional zu sein – wird hingegen immer wieder neu diskutiert.
Dabei haben sich innerhalb der fiktionstheoretischen Debatte der letzten 30 Jahre zwei Grundideen mehr oder weniger deutlich durchgesetzt. Erstens wird die Auffassung breit geteilt, dass Fiktionalität primär ein pragmatisches Phänomen ist – also ein Ergebnis eines bestimmten sprachlichen Handelns. Zweitens hat sich die Idee etabliert, dass der Begriff der Fiktionalität über dessen Beziehung zur Vorstellungskraft bestimmt werden sollte.
Innerhalb des Rahmens dieser zwei Grundideen stellt sich damit die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Fiktionalität, der Vorstellungskraft und dem Handeln von Autorinnen und Autoren sowie Leserinnen und Lesern. Hier gibt es verschiedene Vorschläge, die sich zwar nur in ihren Details unterscheiden – auf diese Details kommt es jedoch an. Ich baue auf diesen Vorschlägen auf und habe versucht, einige Probleme zu lösen, die mir bisher ungelöst erschienen.
Warum haben Sie ausgerechnet Montauk von Max Frisch und Koala von Lukas Bärfuss ausgesucht, um Ihre eigene Theorie der Fiktionalität zu entwickeln? Was haben beide gemeinsam?
Montauk und Koala sind Erzählwerke, deren Fiktionalitätsstatus notorisch umstritten ist: manche halten die Werke für fiktional, andere für nichtfiktional; manche gehen von Mischungen aus fiktionalen und nichtfiktionalen Teilen aus, andere halten den Fiktionalitätsstatus schlicht für unbestimmbar. Gerade weil es sich um umstrittene Fälle handelt, eignen sie sich meines Erachtens jedoch besonders gut, um die Leistungsfähigkeit verschiedener Fiktionstheorien zu testen, Stärken und Schwächen zu entdecken und auf diesen Beobachtungen aufzubauen. Hinter diesem Vorgehen steht die Idee, dass eine leistungsfähige Fiktionstheorie nicht nur mit eindeutigen Fällen umgehen können sollte, sondern auch mit umstrittenen und komplexen Fällen wie Montauk und Koala.
Für die Auswahl spielten aber auch rein persönliche Gründe eine Rolle: Ich finde Montauk und Koala sowohl vom Gehalt als auch von der Machart her spannend.
Und wie lautet Ihre Theorie in einfachen Worten?
Ich formuliere insgesamt sechs Definitionen (fiktionale bzw. nichtfiktionale Äusserungen, Erzählungen, Erzählwerke) und eine Analysemethode aus, weshalb eine Zusammenfassung nicht einfach ist. Trotzdem kann ich drei zentrale Punkte herausstreichen.
Erstens geht die Theorie, wie viele andere auch, davon aus, dass Fiktionalität und Nichtfiktionalität ausschliesslich vom sprachlichen Handeln der Autorin oder des Autors abhängt. Der grundlegende Unterschied zwischen Fiktionalität und Nichtfiktionalität beruht auf der geforderten Haltung gegenüber dem jeweils geäusserten Gehalt: Die Leserschaft soll sich, kurz gesagt, entweder vorstellen, dass etwas der Fall ist oder glauben, dass etwas der Fall ist.
Zweitens geht die Theorie davon aus, dass Fiktionalität und Nichtfiktionalität nicht in je einer Definition bestimmt werden können. Es braucht vielmehr verschiedene, aufeinander aufbauende Definitionen für verschiedene Ebenen: von der Mikroebene der einzelnen Äusserung, der Mesoebene der Erzählung bis zur Makroebene des Erzählwerkes. Hier baue ich auf den Theorien von Gregory Currie, Kathleen Stock und David Davies auf, kombiniere diese und passe die Definitionen an die Bedürfnisse der Literaturwissenschaft an.
Drittens geht die Theorie davon aus, dass Erzählwerke Mischungen sein können aus fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählungen. Die Klassifikation auf der Werkebene hängt bei solchen Mischfällen davon ab, in welcher Beziehung die Erzählungen stehen. Im Rahmen einer Interpretation muss dann eine Hypothese formuliert werden, von welcher Erzählung die Bedeutung des Werks entscheidend abhängt.
Mein Lösungsvorschlag für Montauk und Koala lautet zuletzt, dass es sich in beiden Fällen um Mischfälle aus fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählungen handelt. Diese Erzählungen stehen auf der Ebene des Werks jedoch in einem anderen Funktionszusammenhang. In Montauk hängt die Werkbedeutung entscheidend von den nichtfiktionalen Erzählungen ab – in Koala jedoch von den fiktionalen Erzählungen.
Wie aktuell ist Max Frisch eigentlich noch? Angenommen, er würde noch leben. Was würden Sie ihn gerne fragen?
Wenn die Frage auf die literarische Qualität seines Werks zielt, dann bleibt Max Frisch meiner Lektüreerfahrung nach aktuell. Aus thematischer Perspektive sehe ich es ähnlich: Insbesondere das Ringen mit der existentiellen Frage nach dem eigenen Ich scheint mir kein Ablaufdatum zu haben. Dürrenmatt hat bekanntlich in einem Brief geschrieben, Frisch habe «seinen Fall zur Welt» gemacht. Frisch schreibt zwar oft über Frisch – in Montauk sowieso –, es geht ihm dabei meines Erachtens aber letztlich um das Individuum als solches.
Ich würde wohl vor allem konkrete Fragen zu einzelnen Werken stellen, die mich selbst beschäftigt haben. Zum Beispiel, was es mit der Zahnarztepisode in Stiller auf sich hat – oder ob er in Montauk absichtlich auf Alice im Wunderland verweist, um so die Identität der im Text «Lynn» genannten Frau preiszugeben.
Lukas Bärfuss hat den Ehrendoktortitel von der Philosophischen Fakultät erhalten. Hatten Sie am Dies Academicus die Möglichkeit, ihn persönlich kennenzulernen? Kennt er Ihre Dissertation?
Wir hatten schon vorher ein wenig Kontakt und er hatte mich bereits gefragt, ob er die Arbeit lesen dürfe. Er scheint interessiert an der Forschung und darüber Bescheid zu wissen. Nach dem Dies Academicus haben wir dann Bücher ausgetauscht: Sekundärliteratur gegen Primärliteratur quasi.
Schreiben Sie selbst literarisch?
Nein.
Was bedeutet Ihnen der erhaltene Vigener-Preis?
Am meisten freut mich daran, dass die Arbeit nicht nur für ein enges Publikum innerhalb des eigenen Faches verständlich zu sein scheint.
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- Der Vigener-Preis wurde 1908 nach einer Spende von Joseph Vigener ins Leben gerufen. Er wird für herausragende Doktorarbeiten verliehen. Die Fakultäten der Universität Freiburg verleihen diese Preise anlässlich des Dies Academicus.
- Webseite von Victor Lindblom
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