Sie ist eine Koryphäe der deutschen Linguistik, Konrad-Duden-Preisträgerin und begeisterte Uni-Hopperin: Nun beehrt Prof. Dr. Christa Dürscheid auch die Unifr mit einem Besuch.
Christa Dürscheid, Sie werden am 1. Dezember 2022 einen Gastvortrag halten mit dem Titel «Das Deutsche und seine Grammatik(en)». Warum setzen Sie «Grammatik» in den Plural?
Im Vortrag werde ich zunächst zeigen, dass es eine Grammatik der gesprochenen Sprache und eine Grammatik der geschriebenen Sprache gibt. Typisch gesprochensprachliche Phänomene sind etwa Konstruktionsabbrüche, Formulierungen wie dem Otto seine Operation oder Verbzweitsätze vom Typ weil ich hab keine Zeit. Einige dieser Phänomene resultieren daraus, dass die Formulierungen erst im Äusserungsprozess selbst, gewissermassen online entstehen. Danach gehe ich auf eine andere Art von Variation in der Grammatik ein. Diese ist regional bedingt. Schauen wir uns z. B. Zeitungstexte aus Berlin, Wien oder Bern an, sehen wir, dass es hier nicht nur Unterschiede in der Lexik, sondern auch auf grammatischer Ebene gibt. Diese betreffen beispielsweise Wortstellungsmuster, die in einem Land vollkommen unauffällig sind, im anderen Land aber markiert. Ich denke da an Abfolgen wie Das Eis ist dick genug vs. Das Eis ist genug dick.
In der Vorlesungsreihe wird das Thema «Sprachnormen» behandelt. Was muss mensch sich darunter vorstellen?
Normen sind Erwartungen, die wir an den Sprachgebrauch herantragen. Sie betreffen alle sprachlichen Ebenen, reichen also von der Rechtschreibung und Aussprache über die Grammatik bis hin zur Textgestaltung und zum Gesprächsverhalten. Diese Erwartungen können unausgesprochen bleiben, aber dennoch als selbstverständlich vorausgesetzt werden, sie können ihre Verbindlichkeit aber auch dadurch erhalten, dass sie schriftlich fixiert sind (z. B. in Wörterbüchern und Grammatiken). Was die Rechtschreibung betrifft, so ist diese im Deutschen sogar kodifiziert, hier gibt es eine Amtliche Regelung, die festlegt, was richtig und was falsch ist. Auch die Normaussagen in anderen Nachschlagewerken lassen sich präskriptiv, d.h. als Handlungsanweisungen mit Verpflichtungscharakter lesen, sie können aber, anders als das Rechtschreibregelwerk, auch deskriptiv aufgefasst werden – in dem Sinne, dass sie den Sprachgebrauch im Standarddeutschen beschreiben, nicht vorschreiben wollen. In der Linguistik wird weiter auch immer wieder betont, dass es pragmatische Normen gibt. So gelten für das Verfassen eines Kommentars in einer Online-Zeitung andere Normen als für das Formulieren eines Bewerbungsschreibens. Das betrifft auch die Unterscheidung von gesprochener und geschriebener Sprache. In einem Gespräch wird man wohl nicht die Erwartung haben, dass die anderen in ganzen Sätzen antworten müssen.
Die meisten denken bei Sprachnormen wohl ans «Gendern». Das Thema wird auch unter Sprachwissenschaftler_innen immer beliebter. Haben Sie jemals daran gedacht, selbst über gendersensible Sprache zu forschen?
Daran gedacht habe ich schon, ich habe mich aber dagegen entschieden. Meine Forschungsinteressen liegen in anderen Bereichen, in der Grammatik, der Variationslinguistik, der Medienlinguistik, der Schriftlinguistik und der Sprachdidaktik. Arbeiten zum gendersensiblen Sprachgebrauch betreue ich am Deutschen Seminar gerne und ich spreche das Thema auch immer wieder in meinen Lehrveranstaltungen an. Es ist aber kein Thema, das mich so umtreibt, als dass ich darüber forschen wollte.
Sie haben letztes Jahr «Wie sagt man wo?» (siehe Infobox) im Duden-Verlag veröffentlicht. Dürfen wir uns auf weitere Werke dieser Art freuen?
«Wie sagt man wo?» basiert auf Texten, die ich auf Twitter unter dem Namen @VariantenGra verfasst habe. Ich habe sie für das Buch nach regionalen Aspekten ausgewählt. Vom Verlag wurden einige der Texte auch sehr schön illustriert; die Fotos, die ich dazu jeweils auf Twitter gepostet hatte, wurden aber nicht übernommen. Nun möchte ich gerne ein Buch mit dem Titel «365 Tweets zur deutschen Sprache» veröffentlichen – mit neuen Texten, unter Bezugnahme auf ganz verschiedene sprachliche Phänomene und nach Möglichkeit auch mit meinen Fotos, die das Ganze so authentisch machen. Ich habe dazu gerade einen Verlag angefragt.
Warum hat sich das Eszett (ß) in der Schweiz bisher nicht durchgesetzt?
In der Amtlichen Regelung für deutsche Rechtschreibung ist eigens vermerkt, dass man in der Schweiz und in Liechtenstein immer mit Doppel-s schreiben kann. Es besteht also gar keine Notwendigkeit, auf das Eszett umzustellen; die Schreibweise ist auch so rechtschreibkonform. Und da wir in der Schweiz Tastaturen haben, mit denen in allen Sprachregionen gearbeitet werden kann, musste man Kompromisse machen. So sieht die Schweizer Tastaturbelegung Tasten für die Akzentschreibungen é, à und è vor, aber keine separate Tastaturbelegung für das Eszett und auch nicht für die relativ selten gebrauchten Grossbuchstaben Ä, Ö und Ü. Würde sich das Eszett in der Schweiz durchsetzen, dann müsste man also die Tastatur umstellen. Und welches Zeichen sollte dafür weichen? Genug Platz für alle ist nicht.
Sie kommen ursprünglich aus Deutschland. Welche Helvetismen haben Sie mittlerweile ins Herz geschlossen und eventuell schon in den eigenen Sprachgebrauch eingebaut?
Es gibt schweizerische Varianten, die ich verwende, ohne es zu merken, z.B. Entscheid, Beschrieb, Unterbruch, parkieren. Dann habe ich auch den Wortakzent übernommen, betone also Abkürzungen wie USA und SMS nun auf der ersten Silbe. Auch das geschieht schon unbewusst. Daneben gibt es einige Ausdrucksweisen, deren Gebrauch ich regelrecht inszeniere – einfach, weil ich so froh bin, dass ich sie nun habe und es umständlich fände, das anders zu formulieren. Dazu gehören Wörter wie parat, allfällig und traktandieren.
Wie Ihrem Twitter-Profil zu entnehmen ist, sind Sie begeisterte Uni-Hopperin. Waren Sie schon immer so häufig unterwegs? Oder hat der erhaltene Konrad-Duden-Preis Ihren Alltag beeinflusst?
Ich war immer schon gerne auf Reisen – sowohl privat, wo ich z. B. bis zu den Osterinseln gekommen bin, als auch als Gastdozentin an ausländischen Universitäten wie z.B. in Nanjing oder in Budapest. Dazu kommen die vielen Konferenzen in meinem Fach. An diesen nehme ich immer wieder gerne teil – auch weil ich dort geschätzte Kolleginnen und Kollegen treffe. Durch den Duden-Preis ist das nicht noch mehr geworden; es hat sich in den letzten Monaten einfach so ergeben, dass ich an verschiedenen Universitäten war.
Ihnen gehört auch das Twitter-Profil «Variantengrammatik». Wie erklären Sie sich diese Begeisterung für das Thema? Schliesslich haben Sie aktuell über 6900 Follower!
Sprachthemen interessieren immer, das sieht man ja auch an den vielen populären Titeln, die dazu auf dem Markt sind. Auf Twitter präsentiere ich diese Themen als leichte Kost, zum Nachdenken anregend, linguistisch fundiert, aber nicht belehrend. Die Tweets geben oft Anlass zu Diskussionen; viele haben eine Meinung zu dem jeweiligen Phänomen oder steuern Beispiele aus ihrem eigenen Sprachgebrauch bei. Dazu kommt, dass ich (bisher zumindest) jeden Tag – ausser an Weihnachten – etwas schreibe. Dadurch gibt es eine Kontinuität, der Account wird immer wieder wahrgenommen. Viele Tweets werden auch retweetet oder es wird im Bekanntenkreis darauf hingewiesen, dass man hier interessante Beobachtungen zur deutschen Sprache findet. Und so zieht das Ganze nun immer weitere Kreise.
Sie sind eine erfolgreiche Wissenschaftlerin und für viele Linguist_innen ein Role Model. Welche Tipps geben Sie jungen Menschen, die in Ihre Fussstapfen treten wollen?
Wichtig ist, dass man schon als Studentin aus der Anonymität heraustritt, dass man das Gespräch mit Dozierenden sucht, sich an den Seminardiskussionen beteiligt, zu Tagungen geht, ein Poster einreicht oder einen Vortrag hält. So kommt man in die Community hinein und lernt die Menschen hinter den Publikationen kennen. Ich finde es ausserdem wichtig, immer einen Ausgleich zu haben. So z.B. auch bei Tagungen. Ich verbinde meine vielen Tagungsbesuche z. B. oft mit anderen Aktivitäten, dadurch habe ich nicht das Gefühl, dass ich immer nur arbeite.
Viele wissen, dass man in Berlin eine »Schrippe«, in München eine »Semmel« und in Bern ein »Weggli« kauft. Dass man in der Schweiz »parkiert« und nicht »parkt«, wenn man sein Auto auf einem Parkplatz abstellt, ist vielleicht schon weniger bekannt. Und wann genau man das Wörtchen »halt« verwendet, ob man es nur sagen oder auch schreiben kann und was es eigentlich bedeutet, ist für die meisten wohl eine Frage des Sprachgefühls. Die Autorin sammelt solche sprachlichen Besonderheiten und Entwicklungen und erklärt kurz und bündig, was dahintersteckt.
Titel: Wie sagt man wo? Erstaunliche Sprachvielfalt von Amrum bis ins Zillertal
Autorin: Christa Dürscheid
Verlag: Duden-Verlag
Seiten: 144
Richtpreis: sFr. 16.90
Erscheinungsjahr: 2021
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- Webseite von Christa Dürscheid
- Christa Dürscheid auf der Webseite der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
- Twitter-Profil von Christa Dürscheid
- Twitter-Profil von Variantengrammatik
- Webseite der Germanistik @Unifr
- Flyer Gastvortrag
- Link zum Event
- Irene Gassmann: Tradition und Moderne im Einklang - 19.11.2024
- Brettspiele im Mittelalter und heute – Gastbeitrag - 14.11.2024
- Geisteswissenschaften in der Krise? - 21.10.2024
Warum sagen die Schweizer „Ein Mann wurde verschossen“, im deutschen heisst es „Ein Mann wurde erschossen“?. Ich kann Munition verschliessen aber nicht eine Person!
Guten Tag und herzlichen Dank für die Geduld.
Wir haben Prof. Dr. Christa Dürscheid angefragt. Hier die Antwort:
„Das ist eine gute Frage. Es gibt ja einige Verben, die transitiv mit ver- gebraucht werden und eine starke Affiziertheit zum Ausdruck bringen (vgl. jdn. verspotten, verprügeln, verraten) und verschiessen steht in dieser Reihe. Im Variantenwörterbuch ist das Wort nicht erfasst, aber im Idiotikon, vgl. https://digital.idiotikon.ch/idtkn/id8.htm#!page/81403/mode/1up“
Mit freundlichen Grüssen,
Ihre Alma&Georges-Redaktion