Die psychische Belastung ist gross, das Therapieangebot klein. Ein wichtiger Lösungsansatz im Kampf gegen diesen Missstand sind Online-Behandlungen. Um die Therapie von jungen Menschen mit Essanfällen zu verbessern, sucht die Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie für seine laufende Studie weitere Betroffene.
Zunehmende psychische Belastung auf der einen, Therapieengpässe auf der anderen Seite – es ist eine gefährliche Kombination, die sich Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schweiz derzeit präsentiert. Das stellen auch Professorin Simone Munsch und Doktorandin Verena Müller vom Departement für Psychologie an der Universität Freiburg fest. Von den über 500 jungen Menschen, die sie zu deren Befindlichkeit befragt haben, gaben 43 Prozent an, psychisch belastet zu sein. «Die Ergebnisse decken sich mit unseren Erfahrungen bei der psychotherapeutischen Praxisstelle. Dort haben die Anfragen im letzten Jahr um 70 Prozent zugenommen», sagt Simone Munsch.
Was für psychische Probleme im Allgemeinen gilt, gilt auch für die häufigsten Essstörungen – Binge-Eating und Loss of Control-Eating –, mit denen sich Müller und Munsch in einer laufenden Studie, die vom Schweizer Nationalfonds gefördert wird, befassen. Die Wartelisten für Therapieplätze sind oft lang, die möglichen Folgen verheerend: «Bleibt die Störung unbehandelt, steigt die psychische Belastung weiter, die Zahl der Essanfälle nimmt zu, es drohen Isolation, Rückzug und Stigmatisierung – und gleichzeitig körperliche Probleme wie Übergewicht und später Herz-Kreislauf-Störungen», erklärt Verena Müller.
Online-Behandlung wirkt genauso gut
Ein Lösungsansatz, um dem Therapieengpass entgegenzuwirken, sind Online-Behandlungen. «Für den Grossteil der Störungsbilder gilt: Online-Therapie ist genauso wirksam wie Therapie von Angesicht zu Angesicht – wenn die Person denn bereit ist, sich online behandeln zu lassen», benennt Simone Munsch den aktuellen Forschungsstand. Gleichzeitig hat die Online-Behandlung verschiedene Vorteile, der grösste ist die Niederschwelligkeit, sie ist unabhängig von Ort und Zeit.
Um die progressive Methode voranzubringen und weiter an ihr forschen zu können, hat die Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Freiburg vor rund eineinhalb Jahren das Behandlungsprogramm i-BEAT entwickelt. Es richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene mit Essanfällen und setzt sich besonders auch mit der Emotionsregulation auseinander. Probleme, die eigenen Emotionen zu regulieren sind eine der Hauptursachen für Binge-Eating und Loss of Control-Eating. Weit über 100 Personen haben bereits an den beiden Sub-Studien teilgenommen; einer App-basierten Tagebuchstudie und einem Virtual-Reality-Experiment.
«Aussagen über ätiologische Faktoren können wir dank dieser zwei Studien bereits sehr genaue machen», sagt Munsch. «Nun möchten wir aber gerne wissen, welche Behandlungsmethoden wie wirken.» Eine grundsätzliche Frage, die dabei beantwortet werden soll: Ist es überhaupt nötig, mit den Patient_innen über Essstörungen zu reden, oder reicht es, ihnen Strategien zur Emotionsregulation beizubringen? Aufzuzeigen, welche Alternativen zu den Essanfällen sich ihnen zur Frustbewältigung bieten? Je nach Antworten wäre die Erkenntnis ein weiterer Meilenstein auf dem Weg hin zu effizienteren Behandlungsformen.
Angeleitete Selbsthilfe
Untersucht werden diese Fragen in der Hauptstudie, der Online-Behandlungsstudie. Auch sie läuft bereits. Rund 30 junge Menschen haben bisher teilgenommen. Sie funktioniert nach dem Prinzip der angeleiteten Selbsthilfe. Drei Monate lang arbeiten die Teilnehmenden viele Module selbst durch, füllen Selbstbeobachtungsprotokolle aus oder erstellen Mahlzeitenpläne – dabei stehen sie allerdings immer unter dem Monitoring einer betreuenden Person, die persönliche Rückmeldungen gibt. «Die bisherigen Erfahrungen sind positiv, die Flexibilität kommt gut an und die Behandlungserfolge stimmen uns zuversichtlich», sagt Verena Müller, die selbst mehrere Personen gecoacht hat.
Damit die Stichprobe gross genug ist, um allgemeingültige Aussagen machen zu können, werden für die Hauptstudie noch 30 bis 40 weitere Teilnehmende benötigt. Gesucht werden Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 14 bis 24 Jahren, die an Essanfällen leiden, sich allerdings noch nicht deswegen in Behandlung befinden. Simone Munsch, Verena Müller und ihr Team benötigen die Hilfe von Betroffenen – um diesen dann ihrerseits helfen und noch bessere Behandlungsmethoden für die Zukunft entwickeln zu können.
Wie äussern sich Binge-Eating und Loss of Control-Eating?
Im Fokus von i-BEAT stehen die Krankheitsbilder Binge-Eating und Loss of Control-Eating. Wie äussern sich die genau? «Beim Binge-Eating sind Essanfälle das Hauptmerkmal. Innert kurzer Zeit werden grosse Mengen gegessen – und im Anschluss entstehen dann Scham- und Schuldgefühle. Es gibt also einen vorübergehenden Kontrollverlust. Das ist auch beim Loss of Control-Eating der Fall. Bei diesem Krankheitsbild muss die Nahrungsmenge zwar nicht übermässig gross sein, das schlechte Gefühl des Kontrollverlusts ist aber trotzdem da», erklärt Verena Müller. «Ergänzend gilt es für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserem Programm zu sagen: Sie sind alle depressiv und sozial ängstlich, viele sind suizidal und schwer belastet», schliesst Simone Munsch.
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- Simone Munsch ist ordentliche Professorin am Departement für Psychologie der Universität Freiburg. Unter ihrer Leitung wurde i-BEAT entwickelt.
- Verena Müller ist als Doktorandin an der Entwicklung und Umsetzung beteiligt.
- Departement für Psychologie
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