Biologin und Wissenschaftskommunikatorin Sanja Hakala ist überzeugt, dass die akademische Welt es der Gesellschaft schuldet, sich aktiv öffentlich zu den grossen Problemen unserer Zeit zu äussern – bis hin zur Teilnahme an Protestaktionen. Teil drei unserer Serie über die Redefreiheit von Wissenschaftler_innen.
Ganz generell: Ist es jede Wahrheit wert, ausgesprochen zu werden?
Sowohl die Wahrheit an sich als auch die Absicht, sie auszusprechen, sind wichtig. Die Aufgabe der Forschung besteht selbstverständlich darin, die Wahrheit zu suchen und sie auch zu vermitteln. Wir müssen auch analysieren, wie die Wahrheit, das Wissen, in der Gesellschaft verwendet wird. Der Kampf gegen Fehlinformationen wird immer wichtiger, und dagegen können wir nur mit der Wahrheit ankommen.
Was ist Ihr Fachgebiet? Worüber forschen Sie?
Ich bin Wissenschaftlerin und Wissenschaftskommunikatorin. Ich arbeite als Post-Doc im Bereich Ökologie und Evolutionsbiologie und habe ausserdem letztes Jahr ein populärwissenschaftliches Buch über die biologische Vielfalt von Insekten veröffentlicht. Mein grösstes Interesse gilt der Evolution des Sozialverhaltens. Derzeit untersuche ich Ameisenkolonien und ihre Mund-zu-Mund-Fütterungsnetze, um herauszufinden, wie sich die Individuen auf molekularer Ebene gegenseitig beeinflussen können und wie dies der Ameisengesellschaft hilft, kooperativ zu bleiben.
Im Rahmen meiner akademischen Arbeit setze ich mich zunehmend für stärkere Massnahmen gegen den Zusammenbruch des Klimas und der Umwelt ein. Ich gehöre zu einem wachsenden internationalen Netzwerk von Forschenden, welche die Rolle der Wissenschaft und Kommunikationsstrategien in dieser Krise diskutieren.
Einige Wissenschaftler_innen, aktuell oft aus der Klimaforschung, veröffentlichen nicht nur ihre Ergebnisse, sondern versuchen auch, die Öffentlichkeit zu warnen und die Behörden zum Handeln zu bewegen. Sind Sie der Meinung, dass dies die Rolle der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist oder dass sie sich auf ihre Forschung beschränken und keine Stellung beziehen, resp. sich nicht einmischen sollte?
Ich habe Wissenschaftskommunikation studiert und weiss daher sehr gut, dass die Veröffentlichung in einer akademischen Zeitschrift für eine erfolgreiche Wissensverbreitung nie ausgereicht hat. Das ist nichts Neues.
Die wissenschaftliche Gemeinschaft hatte schon immer eine dreifache Aufgabe: Forschung zu betreiben, auf der Grundlage dieser Forschung die beste Ausbildung zu bieten und die Ergebnisse zum Nutzen der gesamten Gesellschaft zu vermitteln. Akademiker_innen standen schon immer an vorderster Front des gesellschaftlichen Wandels: Die Statistikerin Florence Nightingale und die Ärztin Elizabeth Garrett Anderson waren prominente Fürsprecherinnen der Suffragetten, die sich Ende des 19. Jahrhunderts für das Frauenwahlrecht in Grossbritannien einsetzten. Führende Intellektuelle und Nobelpreisträger verfassten in den 1950er Jahren das berühmte Russell-Einstein-Manifest gegen Atomwaffen. Die Fürsprache und später auch die Akte des zivilen Ungehorsams des Klimawissenschaftlers James Hansen haben andere Akademiker dazu inspiriert, sich seit den 1980er Jahren für den Klimaschutz zu engagieren.
Die Tatsache, dass immer mehr Forschende in dieser Hinsicht aktiv werden, zeugt nicht von einem Wandel der akademischen Kultur, sondern von einer zunehmenden Gefahr für unsere Gesellschaft. Die Auswirkungen der Klimakrise sind in allen Bereichen des Lebens und der Forschung spürbar. Meiner Meinung nach ist die Vorstellung, die akademische Welt könne sich von der Gesellschaft abkoppeln, intellektuell unredlich, und sich auf Neutralität zu berufen heisst, den Status quo zu unterstützen. Als Ökologin gehört es zu meinen zentralen Aufgaben, mich darum zu sorgen, ob das Ökosystem und die natürlichen Populationen, die ich untersuche, am Leben bleiben oder nicht. Von der medizinischen Forschung wird erwartet, dass sie gegen Krankheiten und Leiden Stellung bezieht, Dieses Denken sollte auch für alle anderen Bereiche gelten. Die Rolle der Wissenschaft bestand nie darin, nur die Zerstörung zu dokumentieren.
Wie schätzen Sie den Einfluss ihrer Forschung auf die wissenschaftliche Debatte und die öffentliche Politik ein?
Die Ökologie steht natürlich im Mittelpunkt vieler der grossen Probleme unserer Zeit. Es gibt demnach viele Debatten, sowohl theoretisch als auch auf Anwendungsebene. Beispielsweise zeigen meine jüngsten Ergebnisse über die Ausbreitungsfähigkeit roter Waldameisen, einer Schlüsselspezies in borealen Wäldern, Zusammenhänge mit dem Erhalt von Lebensräumen und dem Rückgang der biologischen Vielfalt und wurden zur Diskussion über die Landnutzungspolitik herangezogen. Die Debatte über die Waldnutzung in Finnland ist derzeit ziemlich hitzig.
Sind Sie der Typ, der seine Überzeugungen vom «Labor» auf die Strasse tragen würde, um einem Thema das notwendige Gewicht zu verleihen?
Ja, das habe ich und werde ich wieder tun. Ich glaube, dass ziviler Ungehorsam, neben anderen Methoden des gewaltfreien zivilen Widerstands, notwendig ist, um unsere Gesellschaft schnell genug auf eine nachhaltige Zukunft auszurichten. Akademiker_innen haben jahrzehntelang über die Klima- und Umweltkrise kommuniziert, aber die Strategien, die wir angewandt haben, sind eindeutig gescheitert, da sich die Krisen nur noch verschärfen.
Ich ermutige alle Menschen, sich über soziale Bewegungen zu informieren und darüber, wie in der Vergangenheit grosse gesellschaftliche Veränderungen herbeigeführt wurden. Ich selbst habe ursprünglich nur Naturwissenschaften und keine Sozialwissenschaften studiert, daher waren mir diese Themen nicht besonders vertraut, aber sie sind äusserst wichtig. Ich bin mir bewusst, dass nicht alle mit meiner Haltung zum zivilen Ungehorsam einverstanden sind, und das ist natürlich in Ordnung. Aber als Akademiker_innen sollten wir uns eine fundierte Meinung bilden, anstatt uns auf blosse Intuition zu verlassen.
Glauben Sie, dass Sie als Wissenschaftlerin die Legitimität oder sogar die Pflicht haben, sich an der öffentlichen Debatte zu beteiligen?
Unbedingt. Wir Akademiker_innen werden mit öffentlichen Mitteln zum Nutzen der Gesellschaft ausgebildet, also haben wir natürlich auch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Eine davon ist es, immer wieder zu analysieren, wann und wie wissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt werden sollen. Der aktuelle wissenschaftliche Konsens ist, dass wir auf eine zunehmend katastrophale Zukunft zusteuern – aber auch, dass es noch nicht zu spät ist und dass es Lösungen gibt, wenn wir sehr schnell handeln. Die Bevölkerung kann immer noch Druck auf die Politik ausüben, um unseren Kurs zu ändern. Ich sehe es als unsere Pflicht an, dies immer wieder laut auszusprechen.
Auch wenn einige Forscher_innen mit den Strategien von Aktivismusbewegungen wie Extinction Rebellion oder Renovate Switzerland überhaupt nicht einverstanden sind, sollten sie dennoch ihre Stimme einsetzen, um die forschungsbasierte Botschaft dieser Bewegungen zu legitimieren. Viele von uns Forschenden schreiben Erklärungen zur gesellschaftlichen Relevanz in unsere Fördergesuche, um zu begründen, warum wir mehr öffentliche Mittel für unsere Arbeit erhalten sollten. Aber seien wir ehrlich: Es reicht nicht aus, nur vorzugeben, Wirkung zu erzeugen.
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- Seite von Sanja Hakalas Forschungsgruppe LeBoeuf Group
- Paper zum Thema: The biospheric emergency calls for scientists to change tactics
- Die Naturforschende Gesellschaft Freiburg - 27.06.2023
- Genussvolle Nacht der Museen 2023 - 20.05.2023
- Free-speech – Das Wort hat Ivo Wallimann-Helmer - 13.04.2023