Wer sich aufmerksam durch die Korridore des Gebäudes MIS04 bewegt, entdeckt am Anschlagbrett neben dem Büro des Mediävistischen Instituts (MIS 4123) seit Beginn des Frühlingssemesters 2023 grosse Weisheiten aus früherer Zeit. Geschäftsführer Dr. Martin Rohde veröffentlicht dort und online regelmässig das «Mittelalterliche Sprichwort der Woche», ein sprachlicher und philosophischer Kurzbesuch in einer Welt lange vor unserer Zeit.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, an der Pinnwand Ihres Instituts und auf dessen Website wöchentlich ein mittelalterliches Sprichwort anzubringen?
Sprichwörter waren im Mittelalter – das mag überraschen – ein sehr beliebtes Mittel, um in einem Gespräch oder auch Disput seinen Standpunkt argumentativ zu untermauern: In Romanen, in Gedichten, ja sogar in Predigten sind deshalb eine riesige Anzahl an Sprichwörtern überliefert. Heute geht es uns mit dieser Aktion darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen und neugierig zu machen auf die Fachgebiete unseres Instituts, vielleicht sogar durch Irritation einen Denkanstoss zu vermitteln oder einfach zum Schmunzeln Anlass zu geben.
Dazu kommt, dass ein Mitglied unseres Instituts, Prof. Hugo O. Bizzarri, zu Sprichwörtern und Exempeln (damit sind mittelalterliche Kurzerzählungen gemeint, die der Belehrung dienen) forscht, und bereits vor einigen Jahren hat das Institut zu diesem Thema eine Tagung im Rahmen der «Freiburger Colloquien» veranstaltet sowie anschliessend eine Publikation in der Reihe «Scrinium Friburgense» dazu herausgebracht. Wir haben also bei verschiedenen Gelegenheiten im Team über diese literarische Gattung gesprochen, und so kam ich auf die Idee, «Das mittelalterliche Sprichwort der Woche» zu lancieren.
Worauf achten Sie beim Auswählen der Sprichwörter?
Mittelalterliche Sprichwörter sind nicht unbedingt – wie wir das gewohnt sind – kurz und bündig, es gibt auch solche, die mehrere Verse umfassen. Solche eignen sich natürlich nicht für unsere Pinnwand. Wir suchen prägnante und konzise Sprichwörter, die man im Vorbeigehen lesen kann. Ausserdem müssen sie auch ausserhalb des jeweiligen praktischen Kontextes, in dem sie ursprünglich überliefert sind, verständlich sein. Ein Sprichwort wie etwa «Jene ist verrückt, deren Kopf so viele Haare hat wie Absalom» ist darum ungeeignet für unsere Pinnwand. Ausserdem wollen wir die verschiedenen Sprachen berücksichtigen. So wechseln wir in jeder Woche die mittelalterliche Sprache (Mittellatein, Mittelhochdeutsch, Provenzalisch, Altitalienisch, Altenglisch oder Altspanisch) und übersetzen das Sprichwort jeweils entweder in modernes Deutsch oder Französisch.
Zu welchen Themen finden sich im Mittelalter speziell viele Sprichwörter?
Es gibt zahlreiche Themenbereiche, zu denen im Mittelalter besonders viele Sprichwörter entstanden sind: Da wäre zum Beispiel der Bereich der Tierwelt zu nennen, wo es um den Vergleich von tierischen und menschlichen Verhaltensweisen geht. Oder Themenbereiche, die sich auf landwirtschaftliche Aktivitäten beziehen oder meteorologische Phänomene aufgreifen. Sprichwörter betrafen im Mittelalter moralische Fragen aller Art, denn sie dienten als Verhaltensregeln in einer Gesellschaft, in der die Mündlichkeit vorherrschte. Es gibt auch mittelalterliche Redensarten, die politische Grundsätze zum Ausdruck bringen, wie das berühmte Sprichwort «Rex a recte regendo». Es definiert den Charakter des Königs im Gegensatz zum Tyrannen: Der König solle regieren, indem er die Gesetze respektiert; andernfalls würde er zum Tyrannen. Heute dagegen mögen uns Sprichwörter zu moralischen Fragen oder solche, die der Ermahnung dienten, tugendhaft zu sein, womöglich bieder und unangenehm belehrend erscheinen.
Finden Sie auch Sprichwörter, deren Sinn sich Ihnen nicht erschliesst?
Tatsächlich gibt es mittelalterliche Sprichwörter, die heute schwierig zu verstehen sind, insbesondere solche, die sich auf damalige Gewohnheiten beziehen, mit historischen Ereignissen verbunden sind oder literarische Stoffe des Mittelalters aufgreifen. Dies sieht man gut etwa beim spanischen Sprichwort «Cedacilo nuevo, tres días en estaca» (Neues Sieblein, drei Tage am Pfahl). Es verweist auf den Brauch, den neuen Weinfilter drei Tage lang an einen Pfahl zu hängen, bevor man ihn verwendet, was metaphorisch auf die Sorgfalt hinweist, mit der die Dinge angepackt werden sollten. Oder das Sprichwort «Aachen wurde nicht in einer Stunde erobert», das ähnlich auf Spanisch oder Französisch existiert, wobei die Stadt auch durch Rom, Paris oder Zamora ersetzt wurde. Es erinnert daran, dass grosse Vorhaben schwer zu realisieren sind beziehungsweise Zeit brauchen.
Es gibt wohl eine grosse Anzahl Sprichwörter, die in gesellschaftlicher Hinsicht mit unserer Zeit nicht mehr kompatibel sind (etwa hinsichtlich des Frauenbilds usw.). Wie gehen Sie mit solchen Funden um?
Es kann nicht bestritten werden, dass es viele misogyne mittelalterliche Sprichwörter gibt (aber gilt das nicht auch noch für die Moderne…?). Allerdings gibt es auch zahlreiche mittelalterliche Sprichwörter, die sich über männliche Vertreter bestimmter Berufsgruppen lustig machen. Auch gibt es nicht wenige mittelalterliche Sentenzen, die etwa Bauern oder andere ,niedrige Schichten‘ lächerlich machen. Viele Sprichwörter wiederum – das mag erstaunen – warnen ausgerechnet vor den Vertretern der Kirche. In all diesen Fällen muss man sich bemühen, sie als Zeugnis einer Zeit zu verstehen, in der andere Prinzipien galten. Das nennt man «Archäologie des Wissens». Die Kulturen der Vergangenheit haben ihre eigenen Normen, und wir dürfen sie nicht anhand unserer eigenen Werte beurteilen. Für unsere Sprichwortauswahl lassen wir diese Sprichwörter jedoch einfach weg oder wir wählen eine überlieferte Variante, die nicht gender-, standes- oder berufsspezifisch formuliert ist.
Welches ist Ihr liebstes altes Sprichwort?
«Huelga, viejo, que bien page tu asno» (Ruh dich aus, Alter, denn dein Esel weidet gut)
In die heutige Jugendsprache übersetzt, würde das wohl heissen: «Chill deine base, Alter!»
Aber auch Sprichwörter, die universelle Wahrheiten mit Humor und Ironie ausdrücken, gefallen mir, wie zum Beispiel «Ce cuide li larron que tuit soient si compaignon» (Der Dieb denkt, dass alle so sind wie er selbst) oder «Aliquando bonus dormitat Homerus» (Manchmal ist es gut, dass Homer schläft).
Für wie lange reicht Ihre Sammlung an Sprichwörtern noch?
Mittelalterliche Sprichwörter gibt es unzählige. Samuel Singer hat eine Sammlung von romanisch-deutschen Sprichwörtern ediert: Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi; die Sammlung umfasst 13 umfangreiche Bände, mit ca. 80’000 Sprichwörtern! Dann gibt es noch das sechsbändige Werk Proverbia sententiaeque latinitatis medii aevi. Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters aus dem Nachlass von Hans Walther und zahlreiche weitere Sammelwerke. Für unsere Pinnwand gäbe es also von den jahrhundertealten Sprichwörtern noch mehrere Jahrhunderte lang Nachschub.
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