Vom 21. bis zum 23. November 2024 findet an der Universität Freiburg eine internationale Tagung statt, die sich mit Brettspielen in der mittelalterlichen Literatur befasst – und zugleich mit Mittelalterbildern, die über das moderne Brettspiel vermittelt werden. Die hochrangig besetzte Tagung verspricht, zu einem akademischen «Fest des Brettspiels» zu werden. Neben den Fachvorträgen werden den Besucher_innen neben Workshops auch eine Podiumsdiskussion und eine Lesung geboten. – Ein Gastbeitrag von Inci Bozkaya, Robert Schöller und Cyrill Senn.
Im Jahr 1938 postulierte der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga, dass der Mensch nicht nur ein verständiges (homo sapiens) und schaffendes (homo faber) Wesen sei, sondern auch ein spielendes – ein homo ludens. Der Spielakt, so Huizinga, gehe allen menschlichen Kulturleistungen voraus. Er erkannte die fundamentale Bedeutung des Spielens für die Entwicklung menschlicher und nicht-menschlicher Gemeinschaften (auch Tiere spielen). Huizingas grundlegender Studie, die zunächst in holländischer Sprache erschien und bis heute in zahlreichen Sprachen neu aufgelegt wird (deutscher Titel: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel), gebührt das Verdienst, das Spiel aus der Kinderstube geholt und als Gegenstand der Kultur- und Geisteswissenschaften etabliert zu haben.
Brettspiele als Forschungsfeld
Die Etablierung der Game Studies als interdisziplinärer Forschungsgegenstand zeigt die akademische Erfolgsgeschichte, die das Spiel besonders in jüngster Zeit durchlaufen hat. Die Popularität und gesellschaftliche Relevanz insbesondere von digitalen Spielen wird auch an dem Umstand deutlich, dass die Gaming-Industrie in Zeiten der Corona-Pandemie in den Umsatzzahlen selbst die Film- und Musikindustrie übertraf. Längst hat die Gesellschaft die Möglichkeit, jederzeit mit ihren Smartphones auf tausende, oftmals kostenlose Spiele zuzugreifen. Zugleich wächst auch der Markt für analoge Spiele stetig. Während jedoch sowohl die Game Studies wie auch die verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ihre Aufmerksamkeit überwiegend auf das digitale Spiel richten, blieb das moderne Brettspiel ein wenig beachtetes Stiefkind. Diese Lücke zu schliessen, ist die Zielsetzung der von Inci Bozkaya, Robert Schöller und Cyril Senn vom Departement für Germanistik ausgerichteten internationalen Fachtagung, die vom 21. bis zum 23. November 2024 an der Universität Freiburg stattfindet. Die Tagung versucht, einen Bogen zu schlagen vom vormodernen Brettspiel hin zum modernen Brettspiel der Gegenwart. Damit schliesst die Tagung zugleich an eine lokale Freiburger Tradition an, galt doch das 2022 abgeschlossene, von Véronique Dasen geleitete Freiburger Forschungsprojekt Locus ludi dem Spiel in der Antike.
Brettspiele im Mittelalter – geliebt und verteufelt
Diesmal ist das Mittelalter an der Reihe. Denn auch die mittelalterliche Gesellschaft war, so hat es den Anschein, vom Spiel geradezu besessen. Davon zeugen die vielen Reglementierungsversuche, die dem Spiel, allen voran dem Würfelspiel, Einhalt zu gebieten trachteten. Dies ging so weit, dass im späten Mittelalter sogar öffentliche Brettspielverbrennungen abgehalten wurden, bei denen Adelige und Stadtbürger reumütig ihre Würfel, Spielkarten und Spielbretter ins Feuer warfen. Die Ambivalenz des mittelalterlichen Umgangs mit dem Spiel zeigt sich auch daran, dass manche Geistliche das Spiel in der Predigt verdammten und andere (wenn nicht gar dieselben) sich am Spiel vergnügten. In den mittelalterlichen Handschriften finden sich nicht wenige Abbildungen von halbnackten Spielern, die lediglich einen Lendenschurz tragen, da sie nicht nur ihr Geld, sondern selbst ihre Kleidung verspielt haben.
Zugleich diente das Spiel der sozialen Distinktion. Das Schach- oder Trictracspiel zu beherrschen, zählt zu den Fähigkeiten, die nach Ausweis der literarischen Texte einen angehenden Ritter auszeichnen.
Zu gut im Schachspiel: Entführt!
Während der Stauferkaiser Friedrich II. einen grundlegenden Text über die Falkenjagd verfasste, gab Alfons X. «el sabio» (der Weise), König von Kastilien und Léon, eine Schrift in Auftrag, in denen die Spiele seiner Zeit ebenso anschaulich wie prunkvoll dargestellt werden. Jagd und Spiel bilden zwei zentrale Bereiche des höfischen Lebens des Mittelalters. Im Tristan Gottfrieds von Strassburg beherrscht der jugendliche Protagonist das Schachspiel so gut, dass seine hohe Abkunft ersichtlich wird und er, in Aussicht auf ein üppiges Lösegeld, von norwegischen Kaufleuten entführt wird.
Schach als Flirt-Chance und für christliche Aufklärung
Der Tristan ist eines von vielen literarischen Beispielen, die von der Allgegenwart des Spiels in der mittelalterlichen Gesellschaft Zeugnis ablegen. Im Minnesang kann der Sänger von seiner Dame «mattgesetzt» werden, im Roman wiederum setzt die Dame die anstürmenden Männer schlicht dadurch matt, dass sie ihnen die schweren Schachfiguren an den Kopf wirft (Wolfram von Eschenbach, Parzival). In der Tristan-Fortsetzung Heinrichs von Freiberg gibt Marke auf dem Spielbrett Isolde ein Abzugsschach; diese sorgt jedoch durch einen vorgetäuschten Wutausbruch, in dessen Verlauf sie das Spielbrett umwirft, für den «Abzug» des Gemahls und macht dadurch den Weg frei für ein weiteres Stelldichein mit Tristan. In der Arabel Ulrichs von dem Türlin werden über das Schachspiel erotische Bande zwischen der verheirateten heidnischen Königin und dem christlichen Ritter geknüpft. Man lernt sich über dem Spiel kennen und lieben – und zugleich nutzt Willehalm die Schachfiguren, um Arabel über den Zusammenhalt der christlichen Gemeinschaft aufzuklären.
Es handelt sich um die erste Schachallegorie in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters. Rund hundert Jahre später wird Konrad von Ammenhausen nach der Vorlage des Dominikaners Jacobus de Cessolis eine grossflächig angelegte Schachallegorie vorlegen, in dem das Funktionieren und der Zusammenhalt der ganzen (spät-)mittelalterlichen Gesellschaft anhand des Schachspiels erklärt wird. Auch für den didaktischen Einsatz von Spielen gibt es (frühneuzeitliche) Zeugnisse, sei es, um Kindern durch das als Flugblatt verkaufte Gänsespiel zum Lernen von Zahlen und Tiernamen zu animieren, oder sei es, dass Thomas Murner, Autor zahlreicher Lehrwerke, juristischen Schulstoff zum Pauken in ein vergnügliches Kartenspiel umwandelt.
Mittelalter gehört zu den Lieblingsthemen
Es wird viel gespielt in den literarischen Texten des Mittelalters. Das Spiel geht in die Texte ein – und stellt zugleich selbst ein textuelles Medium im kultursemiotischen Sinn dar. Die Tagung wird sich auch dieses Aspekts der Brettspiele annehmen. Im modernen Brettspiel wird gerne vom Mittelalter erzählt. Nach Ausweis der massgeblichen internationalen Brettspielplattform BoardGameGeek zählt das Mittelalter zu den bevorzugten Themen zeitgenössischer Brettspiele. Aufgrund ihrer grossen Popularität in breiten Bevölkerungsschichten leisten Brettspiele einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur Vermittlung von Mittelalter-Bildern.
Märchenhaft bis düster – für alle etwas dabei
Unsere Vorstellung vom Mittelalter wird auch von Brettspielen gelenkt. Anders als bei literarischen oder akademischen Texten transportiert der ludische Text des Brettspiels «Mittelalterlichkeit» in spielerischer Art und Weise: das Mittelalter wird gewissermassen «eingespielt». Nicht nur visuelle Aspekte wie das bedruckte Spielmaterial, sondern auch das Spielszenario und die Spielmechaniken können Mittelalterlichkeit stiften. Das Brettspiel ist ein Medium, das sich aus Zeichen unterschiedlicher – schriftlicher, visueller, haptischer – Natur zusammensetzt. Es ist ein «dynamisches System» (Eric Zimmerman), ein System, das in Form von bedeutungsgenerierender Zeichenrotation aktiviert wird. Die Bilder vom Mittelalter, die solcherart eingespielt werden, folgen dem traditionellen bipolaren Muster: Manche Spiele vermitteln ein helles, leuchtendes und märchenhaft anmutendes Mittelalter in der Tradition der Romantik, andere wiederum ein finsteres, archaisches Mittelalter in der Tradition von Renaissance und Aufklärung. Brettspiele sorgen dafür, dass das Mittelalter in unserem Bewusstsein verankert bleibt: verspielt, farbenfroh und höchst lebendig!
Inci Bozkaya ist Doktorassistentin in der Germanistischen Mediävistik. Ihre Forschungsinteressen umfassen die mittelalterliche und frühneuzeitliche Fabel, das illustrierte Flugblatt in der Frühen Neuzeit wie auch Fragen zu Figur und Raum im mittelalterlichen Erzählen.
Robert Schöller ist Privatdozent für Germanistische Mediävistik. Seine Forschungsinteressen gelten der Text- und Überlieferungsgeschichte der hochmittelalterlichen Literatur und der Mittelalterrezeption in populären Medien.
Cyril Senn ist Diplomassistent in der Germanistischen Mediävistik. Er befasst sich mit Ökonomie, Wolframs von Eschenbach Parzival und Spielen.
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