Das Mediävistische Institut der Unifr lädt vom 2. bis 4. September 2024 zu einem spannenden Graduiertenkurs ein, der sich mit der Welt der mehrsprachigen Handschriften des Mittelalters beschäftigt. Promovierende verschiedener Fachrichtungen haben die Gelegenheit, interdisziplinär zu arbeiten, ihre Forschungsprojekte vorzustellen und von international renommierten Expert_innen zu lernen. Ein zweisprachiges Interview mit den Organisator_innen.
Warum sind mehrsprachige Handschriften für das Verständnis der mittelalterlichen Kultur und Geschichte besonders wichtig?
Mehrsprachigkeit war im europäischen Mittelalter eine selbstverständliche Gegebenheit und mit der Spracherfahrung unmittelbar verbunden. Mehrsprachige Handschriften treten in allen Perioden des Mittelalters auf z. B. in Form von Glossen, Urkunden und Sammlungen, deren Texte später zusammengefasst wurden.
Die Existenz mehrsprachiger Handschriften spiegelt zugleich die sprachliche und kulturelle Vielfalt mittelalterlicher Gesellschaften wider. Adelige Höfe, Handels- und Universitätszentren oder Klöster waren oft polyglott und auch über Sprachregionen hinweg miteinander vernetzt.
Ces manuscrits multilingues reflètent bien la circulation des gens et des idées au Moyen Âge et montrent comment, en termes d’études philologiques, une approche rigidement «nationale» (quand ce n’est pas nationaliste) empêche de saisir les relations étroites existant entre différentes communautés linguistiques: les sociétés médiévales sont souvent multilingues, tout comme les locuteurs, les écrivains ou les lecteurs maîtrisent plusieurs langues.
Wie hat sich die Forschung zu mittelalterlichen Handschriften in den letzten Jahren verändert, und welche Rolle spielt der Graduiertenkurs in diesem Kontext?
Les différentes disciplines traitant du Moyen Âge s’intéressent depuis toujours aux manuscrits, sans lesquels elles seraient impossibles. Mais alors que l’étude des manuscrits, de l’écriture (paléographie) ou des livres (codicologie) était considérée comme «science auxiliaire», désormais les médiévistes de toutes les disciplines ont intégré l’idée que la matérialité des manuscrits, et leur médialité – les messages que la matérialité du manuscrit fait passer, au-delà du seul contenu du texte –, sont fondamentaux. Notre cours de formation doctorale, parce qu’il réunit des intervenant·e·s de disciplines différentes, mais dont les questions sur les manuscrits multilingues se rejoignent, reflète bien cela. Par ailleurs, l’irruption des humanités numériques en études médiévales, surtout depuis le début du XXIe siècle, permet des rapports complètement différents aux manuscrits: par exemple, avec la reconnaissance de l’écriture manuscrite (l’OCR pour manuscrits, si on veut), il est possible d’obtenir rapidement une transcription de corpus de textes énormes, réalisée par l’intelligence artificielle: cela change le rapport des chercheuses et chercheurs aux manuscrits, avec le risque de les en éloigner. Le programme du cours veut à la fois sensibiliser aux nouveaux outils numériques, tout en insistant sur l’importance, toujours fondamentale, d’une connaissance intime des manuscrits.
Was erhoffen Sie sich von der interdisziplinären Diskussion unter den Teilnehmenden?
Die Interdisziplinarität und zugleich Vielsprachigkeit des Kurses stellen eine hohe Herausforderung an alle Teilnehmenden dar. Die thematischen Einblicke in die von Fach zu Fach unterschiedlichen Arbeitsbereiche sowie die verschiedenen methodischen Zugänge sind jedoch als eine Bereicherung für die Doktorierenden anzusehen, wie diese selbst in den vorangegangenen Kursen immer wieder betont haben.
Die fächerübergreifende Zusammenarbeit ermöglicht es, die für die mittelalterliche Gesellschaft und Wissenskultur, wie sie sich in den mittelalterlichen Handschriften offenbart, grundlegende Verfahren deutlich zu machen. Indem die Doktorierenden ihr Thema auch solchen Wissenschaftler_innen vorstellen, die anderen Disziplinen angehören, sind sie gezwungen, ihre fächerspezifischen Evidenzen explizit zu machen. Der erfolgende Informationsaustausch, ermöglicht es, die Quellenbasis zu verbreitern, Kenntnisse von Datenbanken zu erhalten, auf andere Forschergruppen hingewiesen zu werden und von relevanten Forschungsergebnissen und
-vorhaben zu erfahren, welche in Verbindung zu den jeweiligen Dissertationen stehen.
Mehrsprachige Handschriften werfen komplexe Fragen zu den Umständen ihrer Entstehung und ihrer Rezeption auf, die nur aus einer interdisziplinären Perspektive behandelt werden können.
Können Sie sich zur Auswahl der Keynote-Sprecher_innen äussern? Was macht ihre Beiträge besonders wertvoll für die Teilnehmenden?
Les conférenciers principaux de l’école doctorale sur les «Manuscrits multilingues du Moyen Âge» seront le professeur Marc Boone de l’Université de Gand, la professeur Elizabeth Tyler de l’Université de York et le professeur Fabio Zinelli de l’École pratique des hautes études de Paris. Il s’agit de trois éminents chercheurs dans les domaines de l’histoire médiévale, de la littérature anglaise médiévale et de la philologie romane respectivement, qui, dans le cadre de leurs activités de recherche et d’enseignement, ont accordé une grande attention aux relations entre les différentes langues et communautés linguistiques au Moyen Âge. Souvent situées à l’intersection de l’histoire intellectuelle, sociale et politique, leurs études bénéficient d’une approche interdisciplinaire et comparative. Leur contribution à l’école doctorale de notre Institut sera précieuse non seulement parce que leur travail constitue une approche modèle de l’étude des manuscrits multilingues, mais aussi parce qu’au cours des trois journées, ils pourront fournir un feedback immédiat et hautement qualifié aux présentations, questions et sollicitations des participant·e·s.
Was begeistert Sie persönlich an der Forschung zu mittelalterlichen Handschriften?
Jedes mittelalterliche Manuskript ist ein Unikat mit individuellen Eigenschaften, mit einer eigenen Geschichte. Keine Buchseite gleicht der anderen. Schon das macht die Arbeit mit einem Schriftstück, das zudem mehrere hundert Jahre überdauert hat, so spannend. Dass der Produktionsprozess überaus aufwändig und kostenintensiv war, sagt auch etwas aus über die grosse Bedeutung, die man den darin enthaltenen Texten beimass: die komplizierte Verarbeitung einer Tierhaut zu einer Pergamentseite, die Herstellung der Tinte, das kalligraphisch kunstvolle Beschreiben der Blätter und die mehrfarbige Ausstattung der Texte – all das machte ein Buch zu einer enormen Investition. Mittelalterliche Handschriften zeugen deshalb davon, dass gelehrte Traktate, aber auch volkssprachige Romane und Liebesgedichte als etwas überaus Wertvolles angesehen wurden. Wenn wir diese Texte heute in den originalen Manuskripten lesen, dann wird auf berührende Art deutlich, wie kostbar sie in den Augen der damaligen Kultur waren. In einer Wegwerfgesellschaft wie der unseren ist es besonders beeindruckend, mit mittelalterlichen Handschriften vor Augen geführt zu bekommen, dass diese genau dafür gemacht wurden, dass sie heute noch gelesen werden: hunderte von Jahren zu überdauern und jeder Generation neu ihre alten Geschichten zu überliefern.
Welche Entwicklungen oder Trends in der Mediävistik finden Sie derzeit am spannendsten, und wie spiegeln sich diese in Ihrem Kurs wider?
Die Mediävistik hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu einer komparatistischen, kulturübergreifenden Disziplin gewandelt. Das Interesse an «Nationalphilologien», das am Anfang der Fachgeschichte überwog, hat den Blick auf Kulturkontakte und Reiseaktivitäten mittelalterlicher Menschen beeinträchtigt. Unser Kurs erlaubt es hier, Korrekturen an althergebrachten Klischees vorzunehmen, indem wir uns mit französisch-englischen, deutsch-jiddischen oder arabisch-griechischen Handschriften beschäftigen.
L’histoire médiévale s’est construite traditionnellement surtout sur le travail du seul texte, même si depuis toujours elle a dû s’intéresser aux caractéristiques matérielles des sources pour s’assurer de leur authenticité. Depuis quelque temps, les historien·e·s médiévistes ont acquis la conviction qu’il est nécessaire de prendre en considération d’autres types de sources, textuelles – littéraires, par exemple -, iconographiques, mais aussi archéologiques. Si l’on ajoute le rôle croissant des humanités numériques, ce sont toutes les méthodes de la recherche historique sur le Moyen Âge qui sont renouvelées.
Am Interview beteiligt: Paolo Borsa, Cornelia Herberichs, Olivier Richard, Martin Rohde
__________- Infos zur Veranstaltung
- Website des Mediävistischen Instituts
- Irene Gassmann: Tradition und Moderne im Einklang - 19.11.2024
- Brettspiele im Mittelalter und heute – Gastbeitrag - 14.11.2024
- Geisteswissenschaften in der Krise? - 21.10.2024