Umweltpreis: Wie die Verbuschung im Wallis philosophische Fragen aufwirft

Umweltpreis: Wie die Verbuschung im Wallis philosophische Fragen aufwirft

Wie sehr soll der Mensch in die Natur eingreifen? Sophie Buchers Antwort auf diese Frage entspricht nicht dem akademischen Mainstream. Sie hat sich die Verbuschung in ihrer Walliser Heimat unter dem Aspekt der Tugendethik angeschaut – und dafür den Umweltforschungspreis der Universität Freiburg gewonnen.

«The Virtue Ethics of Shrub Encroachment on Cultural Landscapes. Extensive Subalpine Grasslands in the Valais, Switzerland as a Case Study of Good Environmental Stewardship», lautet der Titel der Masterarbeit, für die Sophie Bucher von der Jury einstimmig mit dem Umweltforschungspreis 2024 ausgezeichnet worden ist. Im Interview erklärt die Walliserin, warum das Thema wichtig ist, weshalb nicht alle Leute ihrer Meinung sind, und wie sie die Rolle des Menschen im Ökosystem sieht.

Wie kamen Sie darauf, sich in Ihrer Masterarbeit mit dem Thema Verbuschung auseinanderzusetzen?
Ich wollte etwas mit einem Bezug zum Wallis machen. Während meines Studiums hatte ich oft das Gefühl, dass ich das Gelernte nicht recht in meinen Alltag einbauen kann und die Leute aus meinem Umfeld sich nicht viel darunter vorstellen können. Deshalb suchte ich ein sehr konkretes Thema. Während eines früheren Praktikums im Naturpark hatte ich bei Entbuschungsarbeiten mitgeholfen und wusste, dass das eine Thematik ist, die viele Leute im Wallis interessiert. Entsprechend spannend war es, mich mit ihnen auszutauschen.

Warum ist das Thema wichtig?
Es gibt zwei Hauptgründe: Erstens sind die Landschaften, zu denen ich geforscht habe, Biodiversitätshotspots. Zweitens gehören sie im Wallis wie anderswo zum kulturellen Erbe. Die Thematik erlebt gerade eine Wiederbelebung, die Leute fangen sich zunehmend an, dafür zu interessieren. Dadurch entstehen kontroverse Diskussionen um Fragen wie: Was wollen wir erhalten? Wie sehr sollen wir eingreifen? Wie sehr dürfen wir diese Landschaften nutzen?

In welche Richtung geht die Tendenz im Wallis?
Generell hat man damit zu kämpfen, dass immer weniger Personal zur Verfügung steht. Es kümmern sich zunehmend Freiwillige darum, aber das reicht bei weitem nicht aus, um die Flächen, die man eigentlich pflegen könnte, zu erhalten. Der Wille ist grundsätzlich da und es gibt Leute, die um Hilfe anfragen, weil die Verbuschung für sie direkte negative Auswirkungen hat. Vergleicht man aber die Situation mit dem Zustand von vor 40 Jahren, bräuchte es mehr Aufwand.

Damals wurde mehr Aufwand betrieben?
Es gab vor allem mehr Personen, die in der Landwirtschaft tätig waren, entsprechend wurden die Landschaften mehr genutzt. Heute spazieren wir durch die meisten dieser Flächen bloss, sie sind wichtig als Erholungsgebiet, haben aber keine Versorgungsfunktion mehr. Entsprechend schwieriger ist es, die Leute dafür zu motivieren, den Aufwand für die Pflege auf sich zu nehmen. Und doch ist ein Bewusstsein dafür vorhanden – und es wird immer grösser.

Was passiert, wenn der Mensch überhaupt nicht eingreift?
Die flachen Grasländer verschwinden, es gibt mehr Sträucher und es kommt zur Verbuschung. Das kann an gewissen Orten gut sein, etwa in steilen Hängen, wo es positiv ist, wenn wieder ein tieferes Wurzelwerk entsteht, das Erosion entgegenwirkt. Aber je nachdem, welche Pflanzen wachsen, können Monokulturen entstehen. Dominante Pflanzen verhindern so Biodiversität.

Sie behandeln die Thematik in Ihrer Arbeit auch auf einer philosophischen Ebene. Was war Ihre Herangehensweise?
Ich wählte einen interdisziplinären Ansatz, mit Fokus auf die Ethik. In unserem Masterstudium ist es so etwas wie der Klebstoff, der alles zusammenhält, die Themen immer auch unter dem ethischen Aspekt zu betrachten. Konkret habe ich mich dazu entschieden, etwas zur Tugendethik zu machen. Im Gegensatz zu den anderen grossen Teilgebieten der Ethik geht es da vor allem um die Kultivierung des eigenen moralischen Charakters. Das passt gut zum Thema, weil es in diesem Spannungsfeld zwischen Nutzung und Pflege angesiedelt ist. In der Tugendethik ist die Mässigung ein zentrales Thema, dass ein Kompromiss zwischen zwei Extremen gefunden wird. Auch Begriffe wie Identitätsstärkung und Kulturerbe sind von Bedeutung.

Stichwort Tugendethik: Was gehört zu den Aufgaben und Pflichten des Menschen im Zusammenhang mit der Verbuschung im Wallis?
Zu den wichtigsten Schlüssen, die ich in meiner Arbeit ziehe, gehört, dass es eben nicht darum geht, uns komplett zurückzuziehen und mit einem Laissez-faire-Ansatz die Natur sich selbst zu überlassen. Es ist sinnvoll und sogar notwendig, dass wir einen Einfluss auf diese Landschaften ausüben. Ich habe drei Tugenden herausgearbeitet, die dafür wichtig sind: Mässigung, das Wohlwollen anderen Lebewesen gegenüber sowie Loyalität, also Dankbarkeit dafür, was wir in diesen Landschaften bereits erleben durften, dass wir davon profitiert haben – und nun entsprechend diese Tradition weiterführen. Es ist eine Verpflichtung, diese Lebewesen, dieses Ökosystem zu unterstützen.

Ist das die gängige Sichtweise in der Ethik und im Umweltschutz?
Nicht unbedingt, sie geht ein wenig gegen den Mainstream. Es gibt Leute, die sehr stark den Laissez-faire-Ansatz befürworten. Je nach Blase, in der man sich bewegt, geht man davon aus, dass sich der Mensch generell zurückhalten und zurückziehen sollte. Der Tenor ist, dass es in Arroganz mündet, eine Hybris ist oder ganz einfach naiv, wenn wir jetzt noch mehr machen wollen, nach allem, was der Mensch bereits angerichtet hat.

Sie hingegen glauben an das Gute im Menschen?
Auf jeden Fall. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alles, das vom Menschen kommt, direkt verteufeln. Es geht darum, den Wert des Eingreifens zu erkennen, zu sehen, dass es etwas bewirken kann. Für die meisten Leute ausserhalb des akademischen Rahmens ist das selbstverständlich. Folglich sind es im akademischen Kontext mitunter abgehobene Diskussionen – in denen ich gerne dagegenhalte.

Kann man sagen: Der Mensch ist Teil des Ökosystems, folglich wäre es nicht natürlich, wenn er sich komplett heraushielte?
Absolut. Es ist auch interessant, aus einer Erziehungsperspektive an das Thema heranzugehen. Wir sollten uns selbst erziehen und zur Verantwortung ziehen. Es geht nicht darum, dass wir eingreifen, wie es uns gerade beliebt; wir müssen uns ständig hinterfragen, kontinuierlich schauen, welche Auswirkungen unser Eingreifen hat, und daran wachsen – damit wir würdig sind, diese Verantwortung aktiv zu übernehmen. Das ist ein zutiefst humanistischer Ansatz, keineswegs auf Dominanz ausgerichtet. Wir sind nun einmal da und müssen irgendwas mit unseren Kräften machen, die diejenigen vieler anderer Spezies übersteigen.

Wenn Sie sich die Schweizer Umweltpolitik unter dem Aspekt der Tugendethik anschauen, wo müsste hauptsächlich der Hebel angesetzt werden?
Es würde sich lohnen, bei der Bildung nicht nur in Digitalisierung und die MINT-Fächer zu investieren, sondern vermehrt auch darin, die Natur zu erfahren. Es wäre wichtig, dass möglichst viele Leute erleben, was die Natur mit uns machen kann, dass wir vielleicht auch einmal der Natur ausgesetzt sind und uns zurechtfinden müssen. Ich habe persönlich sehr gute Erfahrungen gemacht mit Naturwochen, in denen Kinder im Sommer campen und ein längerfristiges Verständnis dafür entwickeln, was es bedeutet, wenn man die Natur lesen und sich darin zurechtfinden kann. Allein schon diese Verankerung würde sehr viel auslösen, wenn sie bei mehr Leuten vorhanden wäre als heute.

Was haben Sie gemacht, damit die Erkenntnisse aus Ihrer Arbeit möglichst breit gestreut werden?
Ich durfte sie in einem Seminar an der Uni Bern bei einem Kolloquium vorstellen. Das wurde von einem meiner Co-Betreuer organisiert, der dort als Biologie-Professor tätig ist. Zudem habe ich die Arbeit all meinen Gesprächspartnern weitergeleitet. Grundsätzlich gilt: Falls sich jemand melden will, um mit mir weiter darüber zu diskutieren, bin ich sehr offen dafür.

Zum Schluss noch etwas komplett anderes: Wie hoch war das Preisgeld und was machen Sie damit?
Es gab 3000 Franken. Was ich damit mache? Da ist Tugendethik wieder ein gutes Stichwort. (lacht) Ich könnte es einerseits sparen, andererseits fände ich es auch schön, mir etwas zu gönnen, um die Auszeichnung richtig zu feiern. Wer weiss, vielleicht läuft es auf eine längere Wanderung hinaus.

Zur Person: Sophie Bucher hat 2023 an der Universität Freiburg das Masterstudium in Environmental Sciences and Humanities abgeschlossen. Im September 2024 begann sie an der Berner Fachhochschule die Ausbildung zur Hebamme. Nebenbei ist die Walliserin in einem Teilzeitpensum im Nachhaltigkeitsteam der BLS tätig.

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Author

Matthias Fasel ist Gesellschaftswissenschaftler, Sportredaktor bei den «Freiburger Nachrichten» und freischaffender Journalist.

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