Am 2. April hält Vitus Huber seine Antrittsvorlesung. Im Interview erklärt der neue Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit, warum er dort über die Conquista spricht, welche Parallelen man zu heute ziehen kann und welche Art Professor er sein will.
Sie haben für Ihre Antrittsvorlesung das Thema «Kollaboration, Kooperation und Konkurrenz im spanischen Kolonialreich» gewählt. Erklären Sie Ihre Wahl.
Die Conquista, die Eroberung und Kolonialisierung des heutigen Lateinamerikas durch die iberischen Kronen, hat eine erhebliche Relevanz für die heutige Welt. Die sogenannte Entdeckung von Amerika durch Christopher Kolumbus etwa markiert ein welthistorisches Ereignis: den Anfang der Globalisierung. Sie beeinflusst unsere Ernährungskultur und verschiedene Lebensbereiche bis heute. Und der Fokus auf Kollaboration, Kooperation und Konkurrenz zielt darauf ab, in diesem kolonialen Setting die verschiedenen Ebenen von Begegnungen und Austausch, Konfrontation und Unterdrückung aufzuzeigen. Die Geschichte der Conquista wurde lange als eurozentrische Erfolgsgeschichte erzählt; dass Spanier die Amerikas entdeckt, erobert, unterworfen und besiedelt haben. Heute ist klar, dass das eine viel zu dichotome Darstellung ist.
Inwiefern?
Mittlerweile werden verstärkt auch die indigenen Perspektiven berücksichtigt, wodurch die Geschichtserzählung ein differenzierteres Bild erhält. Denn die Indigenen spielten mithin als Verbündete spanischer Eroberungszüge eine zentrale Rolle. Es entstanden ständig Kooperationen und Kollaborationen. Als Kooperation bezeichne ich in diesem kolonialen Setting eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Kollaboration hingegen betitelt eine asymmetrische Partnerschaft.
Können Sie Beispiele nennen?
Beim von Hernán Cortés zu Beginn des 16. Jahrhunderts angeführten ikonischen Eroberungszug auf Tenochtitlan – den Ort, an dem heute Mexiko-Stadt liegt – schlossen die spanischen Eroberer verschiedene Allianzen. An der Küste wurden sie zuerst von den Totonaken empfangen. Diese waren den Mexica tributpflichtig, die im sogenannten Aztekenreich von den umliegenden Stadtstaaten Tribut verlangten. Die Spanier merkten deshalb schnell, dass Rivalitäten existierten und sie keineswegs auf ein einheitliches, homogenes Reich trafen. Die Totonaken kollaborierten mit den Spaniern. Die Motivation dahinter war die Hoffnung, sich vom Tributjoch zu befreien. Eine Kollaboration war es deshalb, weil es eine schwächere Gruppierung war, die versuchte, gegen die etablierte Macht Verbündete zu finden. Später trafen die Spanier auf die Tlaxcalteken, eine grössere indigene Gesellschaft, die sich gegen die Mexica wehren konnte und entsprechend nicht tributpflichtig war. Auch sie arbeiteten mit den Spaniern zusammen. In diesem Fall würde ich von Kooperation sprechen. Zu diesem Zeitpunkt waren die spanischen Eroberer rund 600 Mann stark. Allerdings wurden sie von Tausenden bis Zehntausenden Kriegern und Gefolgsleuten der Tlaxcalteken unterstützt. Von der ursprünglich erzählten heroischen Geschichte der kleinen Gruppe von Spaniern, die das riesige Aztekenreich bezwungen haben soll, bleibt deshalb nicht viel übrig. Auch im weiteren Verlauf trafen die Spanier immer wieder auf lokale Herrscher, die versuchten, ihre Macht auszubauen, indem sie die angreifende Kraft unterstützten.
Haben die spanischen Eroberer das geschickt eingefädelt oder bloss offene Türen eingerannt?
Das Bild von Cortés als genialem Anführer, der den lokalen Mikropatriotismus ausgenutzt habe, wurde rasch durch die berühmte Chronik von Bernal Díaz del Castillo revidiert. Dieser war ein einfacher Konquistador, der rund 40 Jahre danach in einer Chronik seine Beobachtungen festhielt. Es wurde klar, dass Cortés nicht immer über alles die Kontrolle hatte. Die heutige Forschung relativiert das Bild noch einmal zusätzlich, weil sie auch die Handlungsfähigkeit der indigenen Verbündeten benennt. Das ist mit Blick auf die Täter-Opfer-Zuschreibung ein heikles Thema, trotz Relativierung darf man nicht vergessen, dass der Ursprung der Aggression aus Europa kam. Tatsächlich aber war Mesoamerika schon vorher eine kriegerische Gegend, genau wie das Inkareich vor Francisco Pizarros Eroberungszug. Auch dort herrschte eine Bürgerkriegssituation vor, was es den Spaniern erleichterte, Allianzen zu knüpfen. Teilweise war es Zufall, dass sie auf solche Rivalen stiessen und sich mit ihnen verständigen und einen gemeinsamen Feind finden konnten. Es war kein kalkuliertes «Teile und herrsche», kein klarer Plan. Auch gab es immer wieder Verluste, gescheiterte Eroberungszüge, unübersichtliche Situationen. Es sei nur daran erinnert, dass Kolumbus eigentlich zu den Gewürzinseln wollte, einen Westweg nach Indien suchte – und aus Versehen auf den Doppelkontinent stiess, der der christlichen Welt unbekannt war.
Im Idealfall können aus der Geschichte Lehren für die Gegenwart gezogen werden. Was können wir mit Blick auf die Conquista mitnehmen?
Experte bin ich für Geschichte, aber ich beobachte Phänomene, die ähnlich sind. Nehmen wir beispielsweise die Beute, die ein zentrales Thema meiner Forschung zur Conquista ist. Ich behaupte, dass sie den Verlauf massgeblich beeinflusst hat. Die Leute, die bei den Eroberungszügen mitmachten, hatten keinen fix zugesagten Sold, sie lebten von der Beute, die aufgeilt wurde. Das trieb an, immer weiterzumachen und möglichst dort hinzugehen, wo es mehr zu holen gibt. Weil sie oft nicht so viel mobile Beute in Form von Gold, Silber und Edelsteinen machten, wie erhofft, suchten sie nach anderen Einnahmequellen, etwa indem sie Steuern erhoben oder den Boden gewinnbringend bewirtschafteten. Im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sehen wir derzeit ebenfalls eine Konzentration auf ressourcenreiche Gegenden. Der Osten und der Süden der Ukraine sind von den Böden her ressourcenreicher als der Rest des Landes. Die Russen haben dort auch Kornfelder abgeerntet und Korn weiterverkauft. Mit erbeuteten Ressourcen Einnahmen generieren und mit Einnahmen das kriegerische Unterfangen weiter vorantreiben; ich nenne das eine Beutespirale. Sie dreht sich immer weiter. Parallelen sind zudem auch auf Ebene Geschichtsschreibung und Legitimierung erkennbar.
Inwiefern?
Während der Conquista gab es in Spanien Kontroversen, ob es gerecht ist, die Bewohner_innen Amerikas zu unterwerfen. Entsprechend wurde ein rhetorischer Trick angewandt. Das sogenannte Requerimiento war ein Text, den man dem Gegner vorlas, bevor man ihn bekämpfte. Darin stand, dass es nur einen Gott gebe, den christlichen. Und dass dessen weltlicher Vertreter, der König, einen gesandt habe. Dass sich alle diesem Gott unterwerfen müssten, ansonsten habe man das Recht, sie zu bekriegen, weil sie Widerstand zur friedlichen Unterordnung zum Christentum leisteten. Dieses Umkehren der Rollen, wer der Aggressor ist, sehen wir in vielen Konflikten. Damit einher geht die Geschichtsschreibung. Cortés schrieb lange Briefe an den König, um seine Handlungen zu legitimieren. In Russland verfolgt Wladimir Putin heute ebenfalls eine demagogische Geschichtsschreibung. Es ist ein stark von den eigenen Interessen gefärbtes Narrativ, das die eigene Vorgehensweise legitimiert und die Fakten verdreht.
Sie forschen und lehren auch zu ganz anderen Themengebieten. Dazu gehört die Körpergeschichte. Wie kamen Sie dazu?
Mich interessieren insbesondere die historischen Formen der Selbstbeobachtung und Selbstverbesserung. Hierbei spielt der Körper eine zentrale Rolle. Die Frühe Neuzeit, die meinen Epochenschwerpunkt bildet, markiert die Zeit, in der die Praktik des Tagebuchschreibens aufkam. Die Verbreitung von Papier sorgte für eine günstigere Form von Schriftlichkeit. Mit der Reformation entstand gleichzeitig eine individuellere Beziehung zu Gott. Anders als im Katholizismus beichteten Protestant_innen ihre Sünden nicht regelmässig einem Beichtvater. Für das Verhältnis zu Gott waren sie vermehrt selbst verantwortlich. Es wurde propagiert, täglich zu beobachten und reflektieren, wie man den Tag verbracht, wo man gesündigt hat, was man besser machen kann – und am besten das alles am Abend im Tagebuch festzuhalten. Das brachte mich auf die Idee, mich mit der Frage nach der Veränderung des eigenen Ichs, des eigenen Körpers auseinanderzusetzen – beziehungsweise damit, inwiefern das schon in der Frühen Neuzeit ein Thema war.
Die Selbstoptimierung, die nicht nur in Lifestyle-Magazinen heute allgegenwärtig ist, ist also kein neues Phänomen?
Nur bedingt, allerdings unterscheiden sich die Umstände und Motivationen. In der Frühen Neuzeit waren Letztere oft verbunden mit religiösen, spirituellen Zielen. Ob Nahrungsreduktion, Schlafentzug oder Körperbeherrschung durch Unterdrückung von Wut etc. – all das war meistens mit spirituellen Intentionen verbunden. Gewisse Mechanismen sind dennoch vergleichbar mit der Gegenwart. Selbstoptimierung ist heute endlos, weil man nie weiss, wann das Optimum erreicht ist. Man kann immer noch besser werden. Im Christentum gab es insofern ein ähnliches Phänomen, als sich die Leute nie sicher sein konnten, ob sie fromm genug lebten. Sie durften auch nicht davon ausgehen, dass sie das taten, das hätte sonst als eitel gegolten – und wäre sicher nicht fromm gewesen. So mussten sich die Betroffenen permanent kleinhalten und selbst geisseln.
Sie sind seit rund einem halben Jahr ordentlicher Professor am Departement für Geschichte. Was für eine Art Professor versuchen Sie zu sein?
Ein hoffentlich innovativer. Ich versuche, die Studierenden für diese Epoche zu begeistern, plausibel zu machen, wie reichhaltig die Zeit war – und wie wichtig und relevant für heute. Ich nenne da gerne auch Beispiele aus dem Alltag: Tomaten kommen aus Amerika, die mediterrane Küche, die bei uns dominant ist, wäre ohne die sogenannte Entdeckung Amerikas undenkbar. Auch Rösti gäbe es nicht, weil wir die Kartoffel nicht kennen würden. Das sind Anekdoten, die Frühe Neuzeit ist jedoch tatsächlich eine Epoche, durch die wir viel lernen können, etwa über interkulturelle und interreligiöse Begegnungen, Staatsbildungsprozesse, Menschen-, Frauen- und Bürgerrechte, Konfliktmanagement etc. Für solche Themen versuche ich die Studierenden zu gewinnen und Ihnen zentrale Kompetenzen aus der Geschichtswissenschaft mitzugeben: Fundiertes Recherchieren, kritisches Analysieren sowie die Fähigkeit, einzuordnen und zu vermitteln. Ich versuche auch, das Fach Geschichte innerhalb der Universität Freiburg zu bewerben, dafür gehe ich gerne ungewohnte Wege und arbeite interdisziplinär. Bereits sind Kooperationen mit Kolleg_innen aus Literaturwissenschaften, Neurowissenschaften und Machine Learning angedacht.
Zur Person
Vitus Huber ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit am Departement für Geschichte der Universität Freiburg. Nach seinem Doktorat an der Ludwig-Maximilians-Universität München war er als Gastwissenschaftler und Dozent an verschiedenen Universitäten in der Schweiz und im Ausland tätig, unter anderem an den Universitäten von Harvard und Oxford. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Kolonialgeschichte, Körpergeschichte und die Geschichte der Nacht.
Zur Antrittsvorlesung
Die Antrittsvorlesung von Vitus Huber findet am Mittwoch, 2. April, um 18.15 Uhr am Standort Miséricorde 03 im Raum 3115 statt. Das Thema lautet «Kollaboration, Kooperation und Konkurrenz im spanischen Kolonialreich».
- Website von Vitus Huber
Weiterführende Infos zur Antrittsvorlesung