Der Dominikaner-Bruder Szymon Bialik (42) ist seit einem halben Jahr katholischer Seelsorger an der Universität Freiburg. Er sieht sich als Brückenbauer und sagt von sich: «Ich bin ein Spätberufener.»
Es gibt Momente im Leben, die alles verändern. Momente, in denen Weichen gestellt werden, oft ohne dass man es im ersten Augenblick erkennt. So ein Moment erlebte Szymon Bialik im Sommer 2007. Der damals 25-Jährige verbrachte, wie in vielen Jahren zuvor, zwei Wochen in Taizé (F). Dieser kleine Ort im französischen Burgund war für ihn eine Zuflucht der Stille, ein Kontrast zu seinem Alltag als Geschichtslehrer. «In dieser Zeit war ich ein Suchender», erinnert sich der in Schlesien (Polen) aufgewachsene Bialik. Taizé war für ihn stets ein Ort der Begegnung, der Spiritualität, aber 2007 wurde es ein Augenöffner. Die Communauté de Taizé, ein ökumenischer Männerorden, bekannt für seine Jugendtreffen, zog jährlich zehntausende junge Menschen aus aller Welt an. Und inmitten dieses spirituellen Aufbruchs fand Bialik eine entscheidende Erkenntnis: Klöster und Orden mögen eine jahrhundertealte Tradition haben, doch sie müssen nicht aus der Zeit gefallen sein. Hier reifte in ihm eine Überzeugung, die sein Leben verändern sollte: «In Taizé habe ich meine Berufung entdeckt.» Doch noch war die Zeit nicht reif. Es sollten noch zehn Jahre vergehen, bis aus der Erkenntnis eine Entscheidung wurde.
Zwischen zwei Welten
Szymon Bialik spricht fliessend Deutsch – und das ist kein Zufall. «Deutsch ist nicht meine Muttersprache, aber es ist auch keine Fremdsprache», sagt er mit einem Lächeln. Seine Heimat ist seit Jahrhunderten zweisprachig. Die Region liegt in der Nähe zu Deutschland und bildet eine Brücke zwischen zwei Kulturen – vergleichbar mit Freiburg. Doch Schlesiens Geschichte ist nicht nur die einer friedlichen Koexistenz. Das 20. Jahrhundert brachte zwei totalitäre Systeme, die die Sprachenfrage zu einer Frage der Identität machten. Unter den Nationalsozialisten war Polnisch verboten, unter dem kommunistischen Regime war es dann das Deutsche. «Die Generation meiner Grosseltern war die letzte, die noch ganz natürlich zweisprachig aufwuchs», erzählt Bialik. «Wir Schlesier haben ein germanisches und ein slawisches Herz.»
Faszination Ökumene
Nicht nur die Sprache, auch die Religion prägt sein Leben. Schlesien ist katholisch, doch es gibt auch eine starke lutherische Minderheit. In jedem Dorf, jeder Stadt stehen zwei Kirchen: eine katholische und eine evangelisch-lutherische. Als Kind fragte er sich: Wieso gibt es zwei Kirchen? Diese Frage liess ihn nicht los. Sie wurde zum Ausgangspunkt für seine Faszination an der Ökumene, die ihn bis heute begleitet. Zwei Sprachen, zwei Glaubensrichtungen – und doch eine gemeinsame Identität. Szymon Bialik lebt mit diesen Spannungen, doch er sieht darin keine Gegensätze, sondern eine Bereicherung. «Vielleicht ist es genau das, was uns ausmacht – wir sind Brückenbauer.»
Das letzte Puzzlestück
Ein weiterer Schlüsselmoment in seinem Leben war 2015, als die Dominikaner nach Katowice kamen. Bialik besuchte eine Messe – und war verzaubert. «Die Liturgie war anders als alles, was ich bisher erlebt hatte. Sie war lebendig, ohne kirchliche Hochsprache. Ich fühlte mich sofort angesprochen.» Rund um die Kirche entstand eine Gemeinschaft, die ihn begeisterte. Der Umgang der Brüder untereinander war offen, zugänglich. Doch das letzte Puzzlestück fiel an seinen Platz, als er ein Buch über die dominikanische Berufung las. «Es war, als würde ich meine eigene spirituelle und geistige Autobiografie lesen. Man versucht, die Puzzleteile zusammenzufügen – und plötzlich passt alles: mein Weg, mein Studium, das Unterrichten, Taizé, meine Vision von Gesellschaft.»
Die Frage der Werte
Szymon Bialik ging schon als Schüler der Frage nach, was die Gesellschaft zusammenhält, was ihr Richtung gibt. Diese Suche nach den Werten führte ihn tiefer, über philosophische und gesellschaftliche Überlegungen hinaus, hin zur Quelle, zu Gott – dem Ursprung des Schönen, des Guten, des Wahren, wie er es beschreibt. Doch Erkenntnis allein reichte ihm nicht. Er wollte darüber sprechen, den Dialog führen, das Gedachte teilen. Also suchte er eine Lebensform, die ihm das ermöglichte. 2017 und mit 35 Jahren war die Zeit reif: der Suchende hatte gefunden. Bialik trat dem Dominikanerorden bei. Es war nicht einfach für ihn, die Studierenden auf ihrem Weg zur Matura alleine zu lassen. Denn das Unterrichten war für Bialik die wichtigste Lebenserfahrung: Er konnte für Menschen da sein. «Der ganze Prozess war ein langer Weg, ich bin sozusagen ein Spätberufener.» Aber jede und jeder habe eine eigene innere Uhr, die nach einem eigenen Rhythmus ticke. «Ich bin nach meiner Zeit gegangen».
Unter den Leuten
Der Eintritt in den Dominikanerorden war für ihn kein Bruch, sondern die konsequente Fortsetzung seines Denkens und Lebens. Die Dominikaner boten ihm, was er brauchte: Nähe zur Gesellschaft, die Möglichkeit, Brücken zu bauen und sich einzubringen. «Wir Dominikaner leben nicht abgeschieden, sondern mitten in der Welt. Unser kirchlicher Beitrag ist zugleich ein gesellschaftlicher», erklärt Bialik.
Genau das unterscheidet diesen Orden von vielen anderen. Tatsächlich war die Gründung des Ordens im 13. Jahrhundert eine kleine Revolution. Während andere Ordensmänner sich hinter Klostermauern zurückzogen, ihre Tage dem Gebet und der Schrift widmeten, gingen die Dominikaner hinaus. Sie studierten, sie mischten sich unter das Volk, sie predigten auf Märkten. Ein ungewohnter Anblick in einer Zeit, in der Ordensleben mit Abgeschiedenheit gleichgesetzt wurde. «In den Augen der etablierten Orden waren wir Vagabunden», sagt Bialik mit einem Schmunzeln. Und doch – oder gerade deshalb – fand er hier seine geistige Heimat.
Nähe zur Uni
Auch in Freiburg haben die Dominikaner ihren festen Platz – und das seit der Gründung der Universität im Jahr 1889. Schon damals besetzten sie Lehrstühle für Philosophie und Theologie und kauften ein ehemaliges Hotel, das sie in ein theologisches Konvikt verwandelten – ein Haus, in dem Professoren und Theologiestudenten gemeinsam lebten und arbeiteten. Dieses Haus, das Albertinum am Georges-Python-Platz, ist bis heute ein lebendiger Ort des intellektuellen und spirituellen Austauschs. «Die Dominikaner sind immer dort, wo die Hochschulen sind. Das ist unsere mittelalterliche Tradition», erklärt Bialik. Sie pflegen das intellektuelle Leben, verbinden Wissenschaft mit Seelsorge. Doch ihr Wirken reicht weit über akademische Kreise hinaus. So engagieren sich die Brüder auch für Obdachlose und Menschen in Not – mitten in der Gesellschaft, dort, wo sie gebraucht werden.
Zurück nach Freiburg
Nun also ist Szymon Bialik katholischer Uni-Seelsorger. Nach seiner Priesterweihe im Jahr 2024 in Polen trat er direkt seine erste Stelle an. Freiburg war für ihn keine Reise ins Unbekannte, schon vor drei Jahren hatte er hier im Rahmen eines «Ordens-Erasmus» ein Semester verbracht. «Es ist eine grosse Herausforderung und gleichzeitig eine Ehre, direkt nach der Weihe nach Freiburg zu kommen», sagt Bialik. Und er trifft dort auf eine vertraute Erfahrung: das Zusammenleben verschiedener Kulturen. «In Schlesien trifft das Germanische auf das Slawische, hier in der Westschweiz trifft das Germanische auf das Romanische.» Für ihn ist es ein weiteres Zeichen, dass er genau am richtigen Ort angekommen ist.
Die Kraft des Austauschs
Bialik spürt den Wandel, die Bedeutung der Religion als Institution nimmt ab – doch etwas bleibt: das menschliche Bedürfnis nach Spiritualität. «Weil es zutiefst menschlich ist», sagt er. Als Seelsorger sieht er sich nicht nur als Zuhörer, sondern als Begleiter – für alle, unabhängig von ihrer Konfession. Er möchte Brücken bauen, über Sprach- und Religionsgrenzen hinweg. Ein spannendes Programm soll Menschen zusammenbringen, neue Perspektiven eröffnen. Besonders am Herzen liegt ihm die Disputatio-Reihe. Eine alte Tradition, die er bei deutschsprachigen Studierenden bekannter machen will. Schon viel früher, an den Universitäten, praktizierten Dominikaner die Kunst der widersprüchlichen, aber brüderlichen Debatte. Argumente wurden geschärft, Standpunkte hinterfragt – nicht um zu gewinnen, sondern um zu verstehen. Bialik glaubt an die Kraft des Austauschs. «Man muss nicht einer Meinung sein, aber in der Diskussion können neue Antworten entstehen», ist er überzeugt.
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