Neurowissenschaften21.09.2021
Wie Vibrationen Illusionen erzeugen
Von unseren fünf Sinnen ist der Tastsinn wahrscheinlich am wenigsten erforscht. Dennoch ist er überaus wichtig, besonders heute, da zahlreiche technische Gegenstände Vibrationen aussenden die sich als Wellen im festen Materialien ausbreiten. Unser Körper nimmt die Schwingungen über Sinnesrezeptoren unter der Haut auf und leitet sie an das Gehirn weiter, wo sie analysiert werden wie auch Geräusche, Gerüche oder visuelle Reize. Bei der Untersuchung des Vibrationsempfindens von Mäusen und Menschen haben Forscher der Schweizer Universitäten Genf (UNIGE) und Freiburg (UNIFR) entdeckt, dass das Gehirn die Frequenz einer Vibration nicht zuverlässig wahrnehmen kann, wenn sich ihre Amplitude ändert. Dadurch entsteht eine Illusion, die verdeutlicht, wie sehr unsere Wahrnehmung der Welt um uns herum von ihrer physischen Realität abweichen kann. Diese Ergebnisse wurden in der Zeitschrift Nature Communications veröffentlicht.
Bei Vibrationen handelt es sich um mechanische Schwingungsbewegungen, die normalerweise als Wellen ausbreiten und von den meisten Lebewesen wahrgenommen werden können. Sie können anhand von zwei physikalischen Eigenschaften definiert werden: der Frequenz, die die Schwingungen pro Zeiteinheit (Hz oder Hertz, Schwingungen pro Sekunde) angibt, und der Amplitude, die der maximalen Höhe der Welle, also ihrer Intensität, entspricht. "Wenn zum Beispiel ein Telefon vibriert, kann diese Bewegung mehr oder weniger schnell sein- ihre Frequenz - und mehr oder weniger stark sein - ihre Amplitude", erklärt Daniel Huber, Professor in der Abteilung für grundlegende Neurowissenschaften an der medizinischen Fakultät der UNIGE, der diese Forschung leitete. "Aber wie interpretiert das Gehirn diese physikalischen Daten? Genau das wollen wir hier untersuchen."
Identische Wahrnehmungen bei Mäusen und Menschen
Zu diesem Zweck unterzogen die Wissenschaftler eine Gruppe von Mäusen und eine Gruppe von Menschen demselben Experiment, bei dem sie Vibrationen an der Hand oder an der Pfote spürten und verschiedene Frequenzen unterscheiden mussten. "Es stellte sich heraus, dass Mäuse empfindlicher auf hohe Frequenzen (um 1000 Hz) reagieren, während die optimale menschliche Empfindlichkeit bei viel niedrigeren Frequenzen liegt, etwa bei 250 Hz", erklärt Mario Prsa, Professor an der medizinischen Fakultät der UNIFR und Erstautor dieser Studie. "Sowohl Mäuse als auch Menschen haben jedoch größere Schwierigkeiten, zwischen niedrigen und hohen Frequenzen zu unterscheiden, wenn deren Amplituden nicht gleich sind. Tatsächlich kann eine bestimmte Wahl ihrer jeweiligen Amplituden ein Phänomen der Wahrnehmungskonstanz hervorrufen: Physikalisch unterschiedliche Vibrationen werden als identisch gespürt. Mäuse und Menschen werden durch dieselbe Wahrnehmungsillusion getäuscht. Das ist sehr überraschend! Diese Täuschung folgt einer recht einfachen Gesetzmäßigkeit: Frequenzen oberhalb oder unterhalb der bevorzugten Frequenz - 250 Hz bei Menschen, 1000 Hz bei Mäusen - werden als ähnlicher mit dieser Frequenz empfunden, wenn die Amplitude hoch ist. Eine hochfrequente Vibration (500 Hz) fühlt sich dann niedriger an, als sie tatsächlich ist, während eine Vibration unterhalb der Vorzugsfrequenz (150 Hz) höher empfunden wird. "Bei dieser psychophysikalischen Täuschung nimmt das Gehirn etwas falsch wahr, indem es sich wahrscheinlich auf das konzentriert, was es am besten kennt", erklärt Mario Prsa. "Dieses Phänomen existiert auch bei anderen Sinnen, wie z. B. dem Gehör, wo unsere Wahrnehmung, durch sehr laute oder sehr leise Töne getäuscht werden kann, und daher selten die tatsächlichen physikalischen Parameter der Reize wiedergibt, sondern eher eine Interpretation mehrerer kombinierter Eigenschaften.
Ein immer noch rätselhaftes Phänomen
Wie und warum wird diese Illusion im Gehirn erzeugt? "Dies ist zur Zeit eine der Fragen die wir in unseren Forschungsarbeiten verfolgen", sagt Daniel Huber. "Ab wann ist das Gehirn nicht mehr in der Lage, taktile Reize richtig zu interpretieren, und was passiert auf neuronaler Ebene? Und warum reagieren alle Menschen, oder Mäuse, auf die gleiche Weise?
Daniel Hubers Team geht sogar noch weiter: Mit Hilfe von gehörlosen Freiwilligen und Musikern überträgt er Musikstücke in Vibrationen, um zu untersuchen, wie man gehörlosen Menschen besser zur Musikwahrnehmung verhelfen könnte.
Artikel:
Prsa, M., Kilicel, D., Nourizonoz, A., Lee KS. , Huber, D. A common computational principle for vibrotactile pitch perception in mouse and human. Nat Commun 12, 5336 (2021).