28.03.2012
Dem Geheimnis unterkühlter Schutthalden auf der Spur
Gefrorene Böden oder gar Permafrost auf nur 1000 Höhenmetern – gibt es das in der Schweiz? Dieser Frage ging Sébastien Morard von der Lehr- und Forschungseinheit Geographie der Universität Freiburg in seiner Dissertation nach. Gewöhnlich findet man Permafrost, d.h. Untergrundmaterial, das über den Zeitraum von mindestens einem Jahr Temperaturen unter dem Gefrierpunkt aufweist, ab einer Höhe von 2500 Metern. Die Ausnahme bilden sogenannt unterkühlte Schutthalden oder unterirdische Systeme: Trotz einer sehr viel höheren Jahresdurchschnittslufttemperatur und der tieferen Lage finden sich auch dort ungewöhnlich kalte Umgebungen, die selbst im Sommer gefroren sind.
Nahe der Oberfläche vorhandenes Eis, im Frühling in einer Schutthalde beim Creux-du-Van (Neuenburger Jura neuchâtelois) Photo: Sébastien Morard
Creux-du-Van, auf 1200m Höhe, an einem Tag im Juli: die Sonne steht im Zenit und die Lufttemperatur in diesem Felsenkessel beträgt etwa +20°C. Trotz der hohen Temperatur zirkuliert ein kalter Luftstrom von +1,5°C zwischen den Steinen am Fuss der Felswände. An einigen Stellen der Schutthalde ist Eis sichtbar, ausserdem hat sich erstaunlicherweise ein Zwergbaumwald gebildet, der trotz des geringen Wuchses ein staatliches Alter hat – alpine Verhältnisse auf geringer Höhe. Phänomene dieser Art sind jedoch keine Seltenheit und lassen sich auch in vielen anderen Gegenden feststellen. Bohrungen in der Schutthalde von Dreveneuse d’en Bas (Wallis) bestätigten gar die Annahme, dass auf einer Höhe von 1600m Permafrost existiert. Welche Naturgewalten verursachen nun aber diese Phänomene, die man einst als „Hexenwälder“ bezeichnete?
Der Kamineffekt – natürliche Lüftung mit grossen Auswirkungen
Zur Belegung seiner Doktorarbeit hat Sébastien Morard zahlreiche Schutthalden aus den Walliser Alpen (Pfynwald, Dreveneuse, Bruson und Champex), den Freiburger (Dent-de-Lys, Gros Chadoua) und Waadtländer Voralpen (Col des Mosses), dem Neuenburger Jura und der Eishöhle von Diablotins (Freiburg) unter die Lupe genommen. Unter dem Begriff „Schutthalde“ versteht man eine Ansammlung permeabler Steine, durch die ein Luftzug zirkulieren kann. Stärke und Richtung des Luftstroms variieren je nach Jahreszeit und Differenz zwischen der externen und internen Lufttemperatur der Schutthalde. Im Winter funktionieren Schutthalden wie Kamine: Warme Luft wird aus den oberen Bereichen abgeleitet, während kalte Luft von aussen ins Innere strömt, was sowohl die Entstehung eines grossen Frigoriespeichers als auch das Tieffrieren des Bodens ermöglicht. Die Bodentemperatur kann so schnell auf -5°C, in kalten Wintern sogar auf -10°C, absinken. Erstaunlicherweise hindert selbst eine dicke Schneedecke in solchen Umgebungen die Luft nicht daran, weiterhin zu zirkulieren. Das Eis entsteht im Frühling als Resultat von wiedergefrorenem Schneeschmelzwasser. Im Sommer ist die Aussentemperatur höher als die Temperatur im Inneren der Schutthalde, so dass ein kalter Luftzug entsteht, der innerhalb der Schutthalde gravitativ absinkt. Dadurch können trotz der Sommerhitze kühle Temperaturen zwischen +1°C und +5°C erhalten bleiben. Dieser Vorgang ist als „Kamineffekt“ bekannt und verwandelt Schutthalden in niedriger Höhe in „natürliche Kühlschränke“, die in der Vergangenheit häufig als Milchkeller genutzt wurden.
Durch winterliche Klimabedingungen erzeugte Wärmeentwicklung
Eine thermische und geophysische Überwachung über mehrere Jahre hinweg hat gezeigt, dass der Schlüsselfaktor bei der Entstehung dieser Phänomene in erster Linie die Lufttemperatur im Winter ist. So hängt beispielsweise die Höhe der im Sommer gemessenen Bodentemperaturen davon ab, wie weit die Temperaturen im Winter abgesunken waren: je kälter der Winter, desto kälter auch der Boden im Sommer. Selbst die Hitzewelle im Jahr 2003 hatte aufgrund dieses Prozesses keinerlei Auswirkungen auf die Schutthalden. In diesem Punkt unterscheiden sich letztere deutlich von Permafrostböden in grosser Höhe, die sowohl von der Höhe der Schneedecke, wie auch von den sommerlichen Temperaturen abhängen. Das thermische Verhalten der Schutthalden ähnelt vielmehr dem Verhalten von Eishöhlen, wie Untersuchungen der wunderschönen Eishöhle von Diablotins bestätigen konnten.
Kontakt: Sébastien Morard, +41 26 300 92 45, sebastien.morard@unifr.ch
Besichtigungen der Forschungsorte können organisiert werden.
Artikel auf Französisch erschienen in GeoFocus 29:
Morard, S. (2011). Effets de la circulation d'air par effet de cheminée dans l'évolution du régime thermique des éboulis froids de basse et moyenne altitude.
http://ethesis.unifr.ch/theses/MorardS.pdf?file=MorardS.pdf
Die Dissertation ist online abrufbar unter http://www.unifr.ch/geosciences/geographie/morard