26.07.2012
Fressen oder gefressen werden: Alles andere als zufällig
Wer frisst wen? Unter der Leitung von Prof. Louis-Félix Bersier ist es einer Forschungsgruppe des Biologiedepartements der Universität Freiburg gelungen, ein neues Puzzleteil zum besseren Verständnis der Organisation von Nahrungsnetzen einzufügen. Die Forschenden zeigen auf, dass die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Arten stärker bestimmen, wer wen frisst, als die Körpergrösse.
Bienenfresser frisst Holzbiene: Das Fressen und Gefressenwerden bildet das grundlegendste Prinzip in der komplexen Organisation von Nahrungsnetzen. Bild: Olivier Seydoux (http://oseydoux.com).
Man stelle sich eine Strassenkarte vor, auf der Ortschaften die Arten in ihrem natürlichen Habitat darstellen, während die Strassen als Verbindung zwischen den Jägern und ihrer Beute dienen. Das Bild zeigt die Architektur eines Nahrungsnetzes und damit, wer wen frisst in einer Artengemeinschaft; es stellt die sogenannten trophischen Beziehungen dar. Die Architektur dieser Netzwerke ist von grosser ökologischer Bedeutung, denn sie bestimmt die Funktion der Ökosysteme: Bisher nahm man an, dass hauptsächlich die Körpergrösse beeinflusst, welche Beutearten von Räubern gefressen werden. Anhand der Studienresultate der Gruppe von Prof. Louis-Félix Bersier wird nun deutlich, dass es nicht in erster Linie die Körpergrösse ist, sondern dass Räuber-Beute-Beziehungen das Resultat eines langen und komplexen Evolutionsprozesses sind. Daraus folgt, dass Arten, die durch Umweltveränderungen aus Lebensräumen verschwinden, nicht einfach durch andere Arten ähnlicher Körpergrösse ersetzt werden können. Es ist unabdingbar, diese Artenvielfalt zu schützen, damit die Ökosysteme als Basis allen Lebens auch weiterhin für die Produktion von Biomasse und Sauerstoff sorgen und durch die Bestäubung den Fortbestand der Kulturen garantieren.
Nicht nur die Grösse zählt
Das Studium der Struktur von trophischen Beziehungen fasziniert Ökologen seit Jahrzehnten. Klar ist, dass die Architektur von Nahrungsnetzen nicht zufällig ist, sondern klar definierten Regeln folgt. Weniger weit ist man in der Erforschung der Erklärungen dieses Regelwerks. Eine häufig gemachte Beobachtung ist, dass die Jäger meist grösser sind als ihre Opfer. Es gibt also unter den Arten eines Habitats eine nach Grösse definierte Hierarchie, die vorgibt, wer wen frisst (in der Welt der Parasiten funktioniert diese Hierarchie gerade umgekehrt). Diese einfache Theorie hat massgeblich die Erforschung von Nahrungsnetzen beeinflusst, deren Architektur in Modellen problemlos anhand der Körpergrösse der beteiligten Arten reproduziert werden kann.
Eine weitere gängige Beobachtung ist, dass Arten ähnliche Opfer verspeisen wie nahe verwandte Arten. So verfügen beispielsweise alle Spechtarten über einen Schnabel, der perfekt dafür geeignet ist, Insekten aus Baumstämmen zu fressen, während alle Läuse mit ihrem Stechrüssel Pflanzensaft saugen. Diese ähnlichen Ernährungsweisen lassen sich damit erklären, dass verwandte Arten dieselbe Abstammung haben und dadurch über ähnliche Merkmale verfügen, die sogenannten „phylogenetischen Eigenschaften“. Die Phylogenetik bezeichnet die Evolution von Lebewesen und wird häufig anhand von Stammbäumen präsentiert. Erst eine diesem Thema gewidmete Publikation aus dem Jahre 2004 von Prof. Louis-Félix Bersier (damals an der Universität Neuenburg) in der renommierten Fachzeitschrift Nature hat dazu geführt, dass den phylogenetischen Eigenschaften einer Art in der Darstellung von Nahrungsnetzen Rechnung getragen wird.
Erstaunliche Entdeckung
Die Körpergrösse und die phylogenetischen Eigenschaften schliessen sich nicht gegenseitig aus – beide haben einen Einfluss auf die Struktur von Nahrungsnetzen. Unklar war bisher: Welches dieser beiden Elemente hat mehr Gewicht? Die Forschenden der Gruppe Bersier liefern die Antwort auf diese Frage in einer eben erschienenen Publikation in der Fachzeitschrift Proceedings of the Royal Society. Sie stützten sich dabei auf publizierte Daten zu trophischen Beziehungen in verschiedenen Ökosystemen und kamen zu einer klaren Schlussfolgerung: Die Struktur eines Nahrungsnetzes ist deutlich enger verknüpft mit der Phylogenetik einer Art als mit deren Grösse. Die Wissenschaftler beobachteten indes, dass die Verwandtschaftsbeziehungen in Nahrungsnetzen von Gewässern, wo die Grösse einer Art eine wichtige Rolle spielt, entsprechend weniger bestimmend sind. Ebenfalls auffällig ist, dass zwischen den Arten in der Rolle des Jägers und denjenigen, die Beute sind, eine Asymmetrie besteht: So fällt die Phylogenetik in der trophischen Struktur der Beute viel schwerer ins Gewicht als bei den Jägern. Anders ausgedrückt heisst dies, dass zwei verwandte Arten häufiger Opfer desselben Jägers werden, als dass sie sich dieselbe Beute teilen. Diese Asymetrie ist umso erstaunlicher, da gerade die Verwandtschaft unter den Jägern (Specht, Läuse...) die Wissenschaftler zur Erforschung der phylogenetischen Eigenschaften angeregt hat.
Link zur Publikation: http://rspb.royalsocietypublishing.org
Kontakt:
Prof. Louis-Félix Bersier, Departement für Biologie, 026 300 88 69, louis-felix.bersier@unifr.ch
Dienst für Kommunikation und Medien, 026 300 70 34