Neurowissenschaften20.09.2024
Atmung und Herzschlag beeinflussen die Wahrnehmung
Eine vom SNF unterstützte Studie belegt, wie sehr Körper und Gehirn zusammenhängen. Die an der Universität Freiburg durchgeführten Untersuchungen zeigen, wie unsere Körperrhythmen die visuelle Wahrnehmung verändern.
Tief durchatmen, um klarer zu sehen – ein Satz, in dem vielleicht mehr Bedeutung steckt, als wir dachten. Denn die Atmung hat einen physiologischen Einfluss auf die Wahrnehmung visueller Eindrücke. Dies geht aus den Untersuchungen von Juliane Britz, Psychologin und Neurowissenschaftlerin an der Universität Freiburg, hervor. Ein von ihr entwickeltes Experiment zeigt auf, dass der Rhythmus von Herzschlag und Atmung die Art beeinflussen, wie wir einen visuellen Reiz bewusst wahrnehmen. Die Ergebnisse dieser vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierten Studie sind kürzlich in der Zeitschrift PNAS (*) erschienen.
Ein Bild sehen, ohne sich dessen bewusst zu sein
Für diese Untersuchung beobachteten Freiwillige einen Bildschirm, auf dem kurzzeitig graue Quadrate eingeblendet wurden, die diagonal mal in die eine, mal in die andere Richtung schraffiert waren. Nach jedem visuellen Stimulus beantworteten die Versuchspersonen zwei Fragen: ob sie die Muster gesehen hatten oder nicht und welche Ausrichtung sie hatten. Der Kontrast der Schraffierung war dabei so gesetzt, dass die Teilnehmenden sie in nur 50 Prozent der Fälle überhaupt bewusst wahrnehmen konnten. Trotzdem war die angegebene Ausrichtung in 85 Prozent der Fälle richtig. Ihrer Intuition folgend, lagen die Versuchspersonen also häufiger richtig, als wenn sie zufällig geantwortet hätten – selbst wenn sie nicht wussten, woher diese Intuition rührte. Das bedeutet, dass sie das Muster manchmal verarbeitet haben, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Während des gesamten Experiments wurden mithilfe von Elektroden die elektrische Gehirnaktivität (Elektroenzephalogramm, EEG) und die Herzaktivität (Elektrokardiogramm, EKG) der Teilnehmenden gemessen. Ausserdem wurde ihre Atmung mithilfe eines Gürtels erfasst, der das Volumen des Bauches mass. Juliane Britz untersuchte, wie sich die Hirnsignale unterscheiden, je nachdem ob eine Person die Schraffierung gesehen hat oder nicht. So konnte sie «neuronale Marker des Bewusstseins» identifizieren.
Anschliessend verglich sie mit ihrem Team diese neuronalen Marker in unterschiedlichen Herzphasen. Die Analyse ergab: Erscheint das Bild, wenn sich das Herz entspannt, treten die Marker des Bewusstseins etwa 150 Millisekunden früher auf, als wenn das Bild in dem Moment erscheint, in dem sich das Herz zusammenzieht. Die Atmung hat einen ähnlichen Einfluss auf die visuelle Wahrnehmung: Wenn das Bild beim Aus- statt beim Einatmen erscheint, ist die gleiche Verzögerung feststellbar. «Die körperlichen Rhythmen beeinflussen die Gehirnaktivität über die Druckrezeptoren in den Arterien», erklärt Juliane Britz. Diese Rezeptoren sind inaktiv, wenn sich das Herz entspannt und man einatmet. Sie werden aber aktiviert, wenn sich das Herz zusammenzieht und man ausatmet. Sie verursachen dann gewissermassen einen neuronalen Stau, der die Verarbeitung von visuellen Stimuli im Gehirn verzögert.
Zwei getrennte Schaltkreise zum Bewusstsein
Diese Entdeckung macht deutlich, dass je nach den vom Körper gesendeten Signalen unterschiedliche Bereiche des Gehirns beteiligt sind. Bisher war bekannt, dass ein Bild zuerst von der Sehrinde aufgenommen wird und dann durch andere Gehirnregionen wandert, bevor es den Ort erreicht, an dem es das bewusste Denken aktiviert – jener Moment also, in dem die Person realisiert, dass sie die Muster gesehen hat. Die neuen Ergebnisse zeigen, dass die visuelle Information im Gehirn zwei verschiedene Wege einschlagen kann. Während sie bei Abwesenheit von körperlichen Signalen den Bereich des frontalen Kortex durchläuft, wird sie bei Anwesenheit von körperlichen Signalen durch den benachbarten Bereich des parietalen Kortex (beim Scheitel) geleitet. Die Existenz dieser beiden parallelen Schaltkreise bietet eine neue Erklärung für die Debatte, ob die Entstehung des Bewusstseins eher im frontalen Kortex oder im parietalen Kortex verankert ist. «Die Sache ist ganz einfach», so die Forscherin. «Es ist so, als gäbe es bei einem visuellen Stimulus zwei mögliche Aktivierungsmuster, je nachdem, ob Signale vom Körper kommen oder nicht.» Letztlich sind es also Herzschlag und Atmung, die über die Druckrezeptoren in den Arterien bestimmen, welchen Weg die visuelle Wahrnehmung im Gehirn nimmt.
Über die Gründe, warum körperliche Zyklen die neuronalen Marker des Bewusstseins so stark beeinflussen, möchte Juliane Britz nicht spekulieren. Sie betont, dass es sich um Grundlagenforschung handle. «Diese Ergebnisse geben eine Antwort auf die Kontroversen über die neurophysiologischen Marker des Bewusstseins und den Gehirnbereich, in dem dieses entsteht.» Ihre wichtigste Erkenntnis: Wir sollten in den Neurowissenschaften weniger «gehirnzentriert» sein. «Körperliche Signale sollten nicht länger als Rauschen betrachtet werden. Das Gehirn ist unentwirrbar mit dem Rest des Körpers verbunden.»